Organisationen lernen Jazz

Unser Gastautor Christoph Henties hat diesen Beitrag geschrieben – und zwei weitere zum Thema Jazz und Management, die in den folgenden Wochen erscheinen werden. Er ist geschäftsführender Gesellschafter einer Unternehmensberatung in Gerlingen / Stuttgart und begleitet mit Leidenschaft seit über 16 Jahren Führungskräfte bei der beruflichen Neuorientierung.
Seit elf Jahren organisiert er den sogenannten Schöntaler Dialog, ein Forum von Führungskräften, die sich in Offenheit und Bekenntnis zur persönlichen Weiterentwicklung einmal im Jahr im barocken Kloster Schöntal im Hohenlohekreis treffen.
Aus dem Interesse an live Musik in kleinen Clubs und der Beobachtung von Menschen (nicht nur den Musizierenden) ist bei Christoph der Gedanke zu den Beiträgen entstanden.
Jazzband als soziales Modell
Neulich im Jazzclub in der Mitte in Reutlingen saß ich unmittelbar vor einigen Musikern, die so leidenschaftlich spielten, ihre Instrumente spielerisch beherrschten und in ihrem Spiel aufgingen. Mir fiel dazu Friedrich Schiller ein, „der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.
Einerseits spielte jeder scheinbar gedankenversunken, ob begleitend oder im Solo. Gleichwohl war bei genauer Beobachtung spürbar, wie alle Musiker auf der Bühne in ständigem Kontakt zu einander standen, damit das Stück für sie und das Publikum ein Hörerlebnis wird: Das Zusammenspielen stand im Vordergrund, nicht der Einzelne.
Musik ist die Sprache des Gefühls und kann als Modell dienen, menschliches Miteinander zu erklären. Musik ist ein Phänomen der Kooperation, das planvolle wie intuitive Kompetenzen zusammen bringt – dies ganz besonders im Jazz.
„Things ain‘t what they used to be“ heißt ein bekannter Jazz Standard aus dem Jahr 1941 von Mercer Ellington, dem Sohn von Duke Ellington. Frei übersetzt etwa „die Dinge sind nicht mehr das, was sie einmal waren.“
Wir leben in einer Zeit, wo alles gleich sein soll; wir synchronisieren uns lieber aus Angst, statt uns zu individualisieren. Der Mensch ist risiko-ängstlich geworden. Alles Neue wird im Augenblick zunächst als Störfaktor wahrgenommen. Die Chance liegt darin, das zu überwinden, statt zu versuchen, alles beherrschbar zu machen – bedenke man nur die Prozess-Gläubigkeit in vielen großen Unternehmen. Nicht erst durch die Agilitätsdiskussion haben wir die Chance, uns einzulassen auf das Unbekannte und zu versuchen es zu gestalten, statt es zu bekämpfen.
Diversität ist notwendig, um komplexe Lösungen zu bearbeiten. Im Jazz gibt es i.d.R. kein Orchester, ein Jazz-Ensemble besteht höchstens aus acht Individualisten, die sich auf einen gemeinsamen Takt, Rhythmus, Anfang und Ende in einer offenen Zeitfolge einigen, um in hoher Komplexität zu spielen.
Fehler als Chance
Jazz ist im Grunde eine musikalische High End Technik, basierend auf höchster individueller Expertise zu spielen! Es gibt nicht den notierten 146. Takt einer planvoll erstellten Partitur, es gibt nur den gemeinsamen Anfang und ein gemeinsames Ende … sozusagen raus aus der Planungsenge, die durch viele Informationen begrenzt.

Unternehmen fordern heute Agilität und intuitive Handlungskompetenzen – darüber würden Jazz-Musiker lachen, denn das ist deren Handwerk seit 100 Jahren! Der Rohstoff des Jazz ist das Unvorhergesehene, das erfordert hohe Agilität und Flexibilität. Die Jazz-Musiker verbindet keine Angst vor Fehlern, Disruption und Kreativität ist angesagt. Der Fehler, die Abweichung ist der Ausgangspunkt für einen neuen Weg. Alles bleibt offen, mit dem Ziel, mit Unsicherheiten umzugehen und dabei zu lernen. Ständig sind musikalische Impulse unterwegs, werden in einen freien Raum gespielt, obwohl es Grenzen gibt: Die minimalen Vereinbarungen, wie gemeinsame Tonart, Rhythmik, Form, Anfang und Ende. Der Solist bringt sozusagen als Projektleiter sein Team musikalisch nach vorne, der Einzelne tritt zurück; es gibt ein Grundmotiv, dann neue Ausflüge und wieder zurück. Die Fähigkeit der Jazz-Musiker ist, stets neue Impulse aufzunehmen und zu verarbeiten. Jazz ist also eine Musikform, die vom kontinuierlichen Lernen im Augenblick geprägt ist – es lässt sich nicht auf Vorrat lernen. Das Aufeinander hören ist die Essenz der Entwicklung, denn jeder ist wechselnd mal Solist oder Begleiter.
Was wir von der Jazz Musik lernen können, ist auf Unvorhergesehenes anders zu reagieren und individuelle Kompetenzen zu entwickeln und zu fördern.
Heterogene Gruppen, im übertragenen Sinne gemeint, musikalisch zu einem pulsierenden Orchester zu bringen, welches mit Leidenschaft, Energie und höchster Fachkompetenz kooperiert, welch schöne Vorstellung für moderne Unternehmen und deren „Dirigenten“. Eine gute Jazz-Session und eine gute Unternehmensführung passieren nicht durch Zufall. Sie haben grundlegende Gemeinsamkeiten, nämlich menschliche Entwicklung in Form von Innovationen, Teamwork, Integrität und dem Mut zur Veränderung.
Bildquellen
- trombone-2548982_1920 (1): dlohner - Pixabay
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