Empathie und tote Tanten

Vor ein paar Tagen habe ich mir ein Trainingsvideo auf LinkedIn angeschaut. In dem Kurs ging es um “Empathy for Customer Service Professionals” und bei der Suche nach etwas ganz anderem bin ich darin hängengeblieben. (So geht es ja häufig auf diesen Plattformen – die Algorithmen schicken einen fröhlich durch die Bestände und irgendwann hat man ganz vergessen, nach was man ursprünglich gesucht hat.)

Der Kurs war relativ kurz und eine amerikanische Trainerin erklärte anschaulich, was es mit der Empathie auf sich hat. Einige Praxisbeispiele wurden im Rollenspiel dargestellt.

Ein Beispiel stellte die folgende Situation dar: Eine Frau ruft beim Helpdesk eines Mobilfunkanbieters an, um den Vertrag der Tante zu kündigen, da diese gestorben ist. Der Helpdesk-Mitarbeiter sagt daraufhin “Das tut mir leid. Ich werde den Vertrag Ihrer Tante direkt beenden.” Während die Trainerin das empathische Verhalten des Helpdesk-Mitarbeiters pries, beschäftigten mich drei Dinge:

  1. Gibt es wohl tatsächlich Menschen, die für einen Helpdesk arbeiten und es fertigbringen, auf die oben genannte Aussage zu antworten, ohne mindestens einen mitfühlenden Satz zu äussern? Selbst wenn er oder sie die Tante gekannt hätte, diese gar nicht nett war und ausserdem ihr Vermögen dem Tierheim vermacht hat anstatt der anrufenden Nichte, wäre ein “Das tut mir leid.” doch der Empathie-Minimum-Level! Fazit: Wer auf der Suche nach einem Training ist, das ein  “Oh Mann, was bin ich gut! Ich mach ja schon alles perfekt!”-Gefühl hinterlässt, ist hier goldrichtig.

  2. Die Erinnerung an die 90er, in denen das Neurolinguistische Programmieren (NLP) ein echter Hype war und viele meiner Kolleginnen und Kollegen entsprechende Trainings absolvierten. Eine “Paging and Leading” (“Mitgehen und Führen”)  genannte Methode zur Vertrauensbildung (um anschliessend die Führung zu übernehmen natürlich – nicht einfach so!) hat mich damals sehr empört – und um es mir nicht mit allen NLP-Fans zu verderben, sei deutlich erwähnt:  in der speziellen Variante, wie sie von einigen, die ich kannte, damals ausgeübt wurde. Mein jeweiliges Gegenüber imitierte im Gespräch jede meiner Gesten und Körperhaltungen, angeblich (und wie in den Trainings erklärt), um „Rapport herzustellen“, also eine positive und vertrauensvolle Beziehung aufzubauen  – was mir an sich lobenswert erschien, mir aber mit der Aussicht auf das anschliessende “Leading” nicht geheuer war.

    Da Frontalangriffe meinerseits („Wenn Ihr nicht endlich mit diesem manipulativen Scheiss aufhört…“) nicht fruchteten, wurde es meine Strategie, mein Gegenüber durch immer eigenartigere Gesten herauszufordern, was aber leider auch nicht geholfen hat. So sehr ich mich auch verrenkte, es wurde “gepaced” – bis zum Bandscheiben-Schaden. Fazit: Wenn das auch Empathie ist, dann nehme ich lieber den Helpdesk-Mitarbeiter mit dem einen Satz zur toten Tante!

  3. Der Gedanke: “Die Nichte kann froh sein, dass die Tante nicht in Deutschland lebt!” Da würde ein Anruf einer Frau, die sich als Nichte der Kundin ausgibt, sicher nicht reichen, um einen Vertrag zu kündigen. Da könnte ja jeder kommen! Neugierig geworden, fragte ich bei einer amerikanischen Kollegin nach. Sie bestätigte mir, dass in Amerika grundsätzlich ein Anruf ausreicht, um “kleinere” Vertrage verstorbener Personen zu kündigen. Sie hatte das im Falle  einer Verwandten auch getan und beim Mobilfunkanbieter und beim Sportverein hatte ein Anruf gereicht.

    Noch neugieriger geworden, habe ich mich bei den gängigen Mobilfunkanbietern in Deutschland einmal umgehört. Eine Kopie der Sterbeurkunde wird standardmässig verlangt, und hin und wieder ist selbst noch von einem Dokument die Rede, mit dem man sich als “legitimiert, um im Namen der verstorbenen Person zu handeln” ausweisen muss. Fazit: Selbst beim Kündigen eines Handy-Vertrages gibt es noch multikulturelle Unterschiede!

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Autor: bbr

Hallo, ich bin Beate Brinkman, der bbr.harlekin. Ich bin Redakteurin und Autorin für den Harlekin.Blog e.V. und im “Hauptberuf” in einem international agierenden IT-Unternehmen als Support Coordinator tätig. Bisher habe ich in deutschen, niederländischen, amerikanischen und indischen Unternehmen gearbeitet und viele Erfahrungen mit multikultureller Zusammenarbeit machen dürfen. Seit vielen Jahren lebe ich als Deutsche in den Niederlanden und habe festgestellt, dass schon allein die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Niederländern ganze Bücher füllen können. Aus beruflichen und privaten Gründen gilt dem multikulturellen (Miss-)Verständis mein besonderes Interesse. Ob es um Essen, Sprache, dienstliche Conference Calls oder die Gestaltung von Begräbnissen geht – wenn die Kulturen mehrer Länder aufeinander stoßen, wird es spannend. Und das führt zu manchmal unerfreulichen, oft sehr komischen, aber immer lehrreichen Situationen.

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