Die Grenzen des guten Geschmacks (Teil 1)

Meine Großmutter war eine interessante Frau. Immer wenn ich an sie denke, kommen mir Erlebnisse aus meiner Jugend und ihre Lebensweisheiten dazu in den Sinn. In jeder Lebenslage, zu jeder Situation gab es – bei Bedarf –  einen passenden Spruch. Für sie waren das feste Leitlinien, fast schon Gebote. Darüber wurde nicht diskutiert, das war halt einfach so.

Metaphern und Lebensweisheiten zu miteinander spielenden Kindern kann man wahrscheinlich den ganzen Tag anwenden, denn „zu Besuch bei Oma“ war für uns Abenteuer pur. Angeln und spielen an der Weser, Lagerfeuer sowie Essen direkt von Bäumen und Büschen war an der Tagesordnung. Da kann es dann schon einmal vorgekommen sein (sorry!), dass ich mir mittags mehr Pudding genommen habe oder von den Brötchen zum Frühstück eines mehr hatte als die anderen Kinder am Tisch. Und schon war der größte Streit im Gange!

Omas Lebensweisheit schlechthin in solchen Situationen, für uns freche und sich streitende Jungs, war daher häufig: „Ja Ja, das Gras auf der anderen Seite vom Zaun ist immer grüner!“ So in dem Sinne: Sei zufrieden mit dem, was Du hast und interessiere Dich nicht für (sei nicht neidisch auf) das, was andere haben.

Die meisten Situationen von damals habe ich leider längst vergessen, geblieben ist die konzentrierte Erinnerung an meine Oma und „ihre“ Lebensweisheiten. Und inzwischen verwende ich diese Metapher selbst, allerdings sehe ich die Welt dahinter völlig anders als Oma damals. Ich bin nämlich schon länger der festen Überzeugung, dass Grenzen (also auch Zäune) genau dazu da sind, einmal auf die andere Seite zu schauen. Also nicht nur schauen, sondern ausprobieren, hinterfragen – sich wirklich dafür interessieren, was der Unterschied zwischen vor und hinter dem Zaun ist.

Es ist absolut erstaunlich, was man dabei alles lernen kann – natürlich nur, wenn man den Zaun vorher gefunden hat. Denn viele Zäune/Grenzen sehen wir gar nicht, sie sind nicht unbedingt offensichtlich. Es stehen nicht überall Zollschranken und Grenzbeamte und kontrollieren die Einreise. Was ich meine, sind Grenzen in unseren Köpfen, Gedankenschranken – so etwas wie weiße Flecken in unserem Bewusstsein. Nicht gerade ein Tabu, aber man ignoriert die notwendigen Informationen bzw. es interessiert einen einfach nicht. Das Phänomen gibt es zu verschiedenen Themen. Da, wo es eigentlich kaum jemand erwartet, möchte ich heute meine kleine Show als Harlekin abliefern.

Mein Fokus heute sind kulinarische Grenzen – davon gibt es erstaunlich viele und kein Mensch hat sie jemals bewusst gezogen. Kein Gigant der Küche hat sie definiert bzw. erobert. Sie entstanden (und entstehen immer noch) durch klimatische Restriktionen und die Anpassungsfähigkeit des Menschen an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten. Viele dieser Grenzen sind unscharf und ihre Entstehung ist Teil von Legenden oder die nachträgliche Interpretation historischer Ereignisse. Solchen Erklärungen kann man glauben, muss man aber nicht. Denn von den Bezzerwizzern, die heute über die Entstehung dieser Grenzen des guten Geschmacks berichten – war ja kaum einer dabei! Also erhebe auch ich keinen Anspruch auf historische Genauigkeit. Ich berichte ausschließlich auf der Basis frei verfügbaren Wissens (bevorzugt WIKIPEDIA) und meiner Interpretation der Dinge.

Die meisten wissen nicht, wo sie Geschmacks-Grenzen suchen sollten, und selbst wenn, würden sie nicht immer erkennen, was ihre Seite von der anderen Seite wirklich unterscheidet. Urlaubsreisen, Internet und die vielen Kochsendungen im Free-TV haben das Thema zweifellos zugänglicher gemacht, nur liegt auch dort der Schwerpunkt auf der Ebene „satt werden“ und deutlich weniger bei „schlau werden“.

Bei den simpleren Gemütern wird diese kniffelige Fragestellung zum nächsten Spiel IHRER Nationalmannschaft schnell mal wieder aufgewärmt. Denn, wie war das noch? Ach ja, WIR spielen gegen Käsköppe, Makkaronis oder Froschfresser. Und auch richtig, wir sind bei den anderen „die Krauts“, weil sich ja richtige Deutsche bekanntlich von Sauerkraut, Bier und Haxen ernähren. Man achte auf die Reihenfolge! Die Deutschen ein Volk latenter Vegetarier.

Doch nun Schluss mit diesen kulinarisch-nationalen Seitenstichen, die interessanteren Grenzen ziehen sich über ganze Kontinente oder sind mehr regional definiert.

Wie im richtigen Leben, darf man auch in der Küche niemals seine Neugier verlieren. In der Kulinarik gibt es für mich immer etwas Neues zu entdecken. Wiederentdeckte oder noch unbekannte Lebensmittel, Rezepte und Gewürze aus fremden Ländern, aber auch regionale Varianten und Gewohnheiten. Eine Quelle meiner Inspiration sind dabei meine Erinnerungen an Zeiten als Kind bei meiner Großmutter, die Nelkenpfeffer-Aromen in ihrer Küche und den Geschmack der von ihr servierten Gerichte.

Der andere Teil fußt auf einem Erlebnis als Jugendlicher während meiner Schulzeit. Als Mann, ehemaliger Consultant und Harlekin habe ich ja bekanntlich von nichts so richtig Ahnung, was mich aber nie davon abgehalten hat, trotzdem alles zu probieren. Manchmal fällt man dabei auf die Nase, hin und wieder (eigentlich meistens) entdeckt man dabei aber auch interessante neue Horizonte.

So hatte ich natürlich auch keinen Plan, als ich mich in der Schule, als erster und damals einziger Junge meiner Klasse, freiwillig für den Kochkurs der Mädchen gemeldet habe. Die Umsetzung dieses prinzipiell vernünftigen Vorhabens war damals überhaupt nicht einfach und ist einen eigenen Beitrag im Harlekin wert, hat aber schließlich geklappt. Ich wurde auf der gemischten Jahn-Real-Schule der 1. Junge in einem Kochkurs für Mädchen.

Zum besseren Verständnis sei aber kurz erwähnt: Die anderen – die richtigen Kerle – wurden während dieser Zeit im schulischen Paralleluniversum mit „Werken“ beschäftigt. Dieses bestand überwiegend aus Holzbearbeitung, dem Schleifen von Ytong-Steinen oder dem Umgang mit einer Bohrmaschine. Nach den 3-4 Stunden des jeweiligen Wahl-Pflicht-Faches waren meine Kumpels jeweils dreckig und hungrig, ich hingegen war satt und rundum glücklich. Entscheidend für diesen Glücksmoment war auch die Tatsache, einziger Junge unter 13 Mädels gewesen zu sein, also der „Hahn im Korb“.

So viel Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung konnte eine Mathe-Stunde nicht produzieren. Ich wurde begeisterter Kochschüler und auf der Basis dieses erfolgreichen Experiments wurde die geschlechtsspezifische Wissensvermittlung ab dem Folgejahrgang eingestellt. Interessierte Mädels durften in den Werkunterricht und immer mehr Jungs gingen auf der Basis meiner begeisterten Berichte in den Kochkurs.

Und wie im Film „Forrest Gump“ wurde im Laufe der nächsten Jahrzehnte aus Kochen – der ursprünglich leidigen Pflicht der Hausfrau – eine angesagte Freizeitbeschäftigung für mich und viele weitere Hobbyköche.

Sobald man den Eingang zum Thema Kulinarik/Kochen/Küche gefunden hat, eröffnet sich ein komplexes Themengebiet mit überwiegend praktischen, aber manchmal auch theoretischen Aspekten. Wer nicht weiß, worüber ich hier rede, sollte einmal Sahne mit dem Schneebesen schlagen und anschließend schlüssig erklären, warum und wie die ursprüngliche flüssige Milch nun eine stabile Sahne darstellt – ohne sie dabei gekocht zu haben.

Mehr über die Grenzen des guten Geschmacks mit regionalen Beispielen im zweiten Teil am kommenden Freitag.

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