
Kennen Sie Neuss? Nein? Lohnt sich, vor allem für Vogelfans. Und da sind wir auch schon wieder im fröhlichen Frühlingsthema Ornithologie. Wenn Sie also heute Lust hatten auf einen Harlekin-Artikel zu agilem Projektmanagement oder künstlicher Intelligenz, muss ich Sie leider vertrösten.
Zurück nach Neuss: Obwohl ich lange in der großen, auf der anderen Rheinseite befindlichen Neuss gegenüberliegenden Stadt gewohnt habe, war Neuss für mich immer ein weißer Fleck auf der Landkarte. Ich hatte diese Stadt links oder rechts liegen lassen, z. B. auf dem Weg nach Holland oder nach Xanten (mit der tollen römischen Ausgrabungsstätte). Doch das hat sich geändert. Es gibt ja so viel zu entdecken… Nicht nur Eisvögel am Nordkanal.
Wenn man den Neusser Nordkanal (auf dem übrigens heute keine Schiffe fahren – können, außer vielleicht Papierschiffchen) in nordwestlicher Richtung begeht, kommt man unweigerlich zum Jröne Meerke (ist rheinisch und heißt übersetzt ins Hochdeutsche: grünes Meerchen). Ein ehemaliger Baggersee wird vom gerne großzügigen Rheinländer kurzerhand zum Meer umfunktioniert und diente mit seinen damaligen Sandstränden (!) den Neussern auch lange als Liegewiese und Freibad. Heute würde kein Erholung Suchender mehr sein Handtuch auf die Wiesen um das Meerchen legen, wenn er nicht müffelnd und besudelt nach Hause kommen möchte.
Seit einigen Jahren tummelt sich nämlich genau an diesem grünen Meerchen, meistens von Dezember bis Juli, eine kleine Population brütender Schneegänse (Anser caerulescens). Wenn die etwa 130 Tiere ankommen, beginnt für die Neusser der Frühling (und der Karneval).
Schneegänse gibt es in zwei Unterarten, die kleine Schneegans, das sind z. B. die in Neuss, und die große Schneegans (Anser caerulescens atlanticus). Und es gibt sie in zwei Farbausprägungen: in weiß (mit schwarzen Handschwingen und aschgrauen Handdecken) und in blaugrau (bis auf den weißen Kopf und Hals sowie den hellen und weißen Hinterbauch). Das dunkle Gefieder vererbt sich dominant. Da die Gänse aber gerne unter sich bleiben, vermählen sich, meist für ein ganzes Leben, gleich aussehende Paare miteinander. Das hält der Rheinländer auch gerne so: jleisch un jleisch jesellt sisch jähn (auf Hochdeutsch: Gleich und Gleich gesellt sich gerne.) Für die Birdies bedeutet das ein Stück Glück, da auch zukünftig beide Schneegans-Farbtypen beobachtet werden können.
Warum erzähle ich Ihnen eigentlich davon? Was macht diese Schneegänse so besonders? Weil es Schneegänse sonst nirgends in Europa gibt. Nur in Neuss!!! Warum fragt man sich, haben die sich diesen Tümpel ausgesucht? Manchmal verirren sich Vögel auf ihren Reisen oder sind entflogene Zuchttiere. Bei den Neusser Gänsen weiß man das nicht so genau. Die Vogelkundler konnten den Gesang der Gänse leider noch nicht entschlüsseln. Im Standardwerk der Vogelrufkunde steht auf Seite 41 präzise beschrieben: „Ihr Ruf ist ein weiches, leicht ansteigendes und gackerndes go go go, auch koik oder goaa und gä-gä-gä. Warnrufe sind von der Lauthöhe tiefer und klingen wie angk-ak-ak-ak. Der Flugruf ist einsilbig, kurz und rau und wird mit krä oder kräh lautmalerisch umschrieben.“ 1 So werden wir also warten müssen, bis das Geheimnis der Schneegänse in Neuss gelüftet werden kann. Normalerweise leben Schneegänse in großen Verbünden in Grönland, Kanada, im Norden von Nordamerika, Alaska, Sibirien und Japan. Und nur da!
Das Jröne Meerke ist im Verbund mit weiteren Naturgebieten in der Nähe ein wichtiger Bestandteil des Naherholungsgebietes um Neuss. Daher kommen auch immer mehr Zugvögel vorbei und bleiben oft länger. Die Neusser Schneegänse leben in unüberriechbarer Nachbarschaft mit anderen Entenvögeln. Insgesamt brüten dort etwa 200 Tiere, plus Gössel.
Nun stellen Sie sich bitte vor: ein überschaubarer, 2,7 ha großer Baggersee (das ist nicht wirklich groß), der eine maximale Tiefe von 6m aufweist und keinen natürlichen Abfluss hat, mit 200 verdauenden großen Vögeln – und das in der Nähe eines Wohngebiets. Ja, da kann dann auch mal der Geduldsfaden des meist gelassenen Neussers reißen. Und so wird seit vielen Jahren mehr oder weniger erfolgreich versucht, dem Dreckberg Herr zu werden. Man hat Eier aus den Nestern entfernt, Hunde, Füchse und Marder auf die Insel gelassen, heimlich Tiere getötet, versucht, sie unfruchtbar zu machen und so weiter. Das sind übrigens alles anerkannte Gänsemanagement-Aktivitäten, die von Jagdbehörden in allen Bundesländern empfohlen werden, wenn Gänsepopulationen in Städten überhand nehmen.
Außer den Naturschützern wurde allerdings nichts sonst aufgeschreckt am Jrüne Meerke. Aber der Aufschrei des Vereins „Notpfote Animal Rescue“ zeigte Wirkung: Die ursprünglich von der Stadt bewilligte Bejagung der Kanadagänse, die ja auch unter anderem dort leben, wurde Ende 2021 ausgesetzt (https://notpfote.de/gaia/). Die Schnee-Gänsepopulation blieb, wo sie war, und so groß, wie sie war. Hat alles nichts genutzt.
Vor ein paar Jahren drohte dann auch noch der Pfuhl umzukippen: Algenbefall durch zu große Mengen Gänse- und Entenkot. Die Stadt Neuss ist der Blaualgeninvasion mit Ultraschall zu Leibe gerückt. Anscheinend haben Algen Ohren, denn sie haben die Ultraschallmusik nicht vertragen und sind weitgehend abgestorben. Kleiner Scherz. Blaualgen haben Schwimmblasen, um damit an die Oberfläche treiben zu können. Mit den speziellen Ultraschallwellen, die im Wasser bestens verbreitet werden, werden diese Schwimmblasen zerstört, den Blaualgen fehlt der Auftrieb, sie sinken zu Boden, dort gibt es kein Licht und keinen Sauerstoff und sie sterben ab.2 Traurig für die Algen, gut für die cleveren Neusser.
Die Gänse dürfen bleiben und der Nüsser oder die Nüsserin (rheinisch, Hochdeutsch: Neusser Stadtbürger:in) gehen nun mit moderaten Mitteln gegen die dunkle Seite der einzigen europäischen Schneegans-Kolonie vor. Denn mittlerweile wissen Ornithologen, dass die Schneegans-Gruppe in Neuss überaltert ist und gemächlich schrumpft (wissen das auch die Gänse?). Anscheinend bleiben die dort ausgebrüteten Jungvögel in ihrem ursprünglichen nördlichen Lebensraum und ziehen nicht mit ihren Eltern zurück nach Neuss. Da eine Schneegans eine ungefähre Lebenserwartung von 20 Jahren hat, wird es an diesem Ort vermutlich zu einem natürlichen Artensterben kommen. Schade. Dann muss ich am Nordkanal halt wieder nach Eisvögeln Ausschau halten, diesen flinken, türkis-bunten Fischchenräubern. Auch schön.
1 Hans-Heiner Bergmann, Hans-Wolfgang Helb, Sabine Baumann
Die Stimmen der Vögel Europas
Bildquellen
- snow-geese-g1d459d4d8_1920: Bryan Hanson / Pixabay
Wow, damit hätte ich nicht gerechnet – Bildungsauftrag erfüllt! Denn ich dachte bisher „Neusser Schneegänse“, das sind die Wohnmobile an der winterlichen Algarve/Portugal mit NE im deutschen Nummernschild 😎