Die Grenzen des guten Geschmacks (Teil 2)

Im heutigen Beitrag geht es nicht ums Kochen, wir machen keine Lebensmittelkunde und auch keine Restaurantkritik. Nein, wir betrachten die Welt aus der speziellen Perspektive eines polyglotten Feinschmeckers. Eines Menschen, der Grenzen auch vom Reisen kennt, sie gerne überschreitet, aber zusätzlich erklären möchte, welche Grenzen es denn noch so gibt: Kulinarische Grenzen – die Grenzen des guten Geschmacks. Fairerweise sollte kurz erwähnt werden, dass dabei der exakte Grenzverlauf häufig umstritten ist, doch sind diese Details für diesen Beitrag eher unerheblich.

Beginnen wir mit dem Weißwurstäquator, wahrscheinlich vielen schon bekannt und gemäß der populärsten Interpretation überwiegend durch den Main gebildet. Südlich davon, also überwiegend in Bayern, werden historisch Weißwürste zum 2. Frühstück sanft erhitzt (nicht gekocht), bis zum 12-Uhr-Läuten aus dem Naturdarm gezuzzelt und mit reichlich süßem Senf und einem Hefeweizen überhaupt erst genießbar gemacht.

Nördlich des Mains hingegen werden meist kleine Würste aus grobem Mett bevorzugt auf einem Rost gebraten. Nürnberger, Regensburger oder Thüringer – alle richtig lecker. Warum man dann noch eine nach Senf schmeckende Weißwurst braucht, ich weiß es nicht. Aba moi, meer san halt meer!

Auch überwiegend schon bekannt ist wahrscheinlich der legendäre Röstigraben in der Schweiz, im eigentlichen Sinne keine kulinarische Grenze, sondern mehr der kleine Unterschied im Abstimmungsverhalten zwischen allemanischen Deutsch-Schweizern und der frankophilen Romandie, also der Westschweiz. Hier dient die Saane als kulinarische Grenze für den/die Rösti. Rösti = klassisches Kartoffelgericht der Deutschschweizer Küche, früher üblicher Bestandteil eines ländlichen Bauernfrühstücks. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts verliert der „politische“ Röstigraben in der Schweiz zwar an Bedeutung. Das allerdings zugunsten eines wachsenden Grabens zwischen urbanen und ländlichen Gebieten, ergo wird aus einem Graben so eine Art Flickenteppich.

Wer sich von der Ostfriesischen Palme karibisches Feeling mit Longdrinks erhofft, der liegt natürlich kulinarisch völlig daneben. Die Ostfriesische Palme ist eine vom Aussterben bedrohte alte Grünkohlsorte, die mit ihrer großen Wuchshöhe und dem langen Strunk aber durchaus einer Palme ähnelt. Hohe Pflanzen waren früher sinnvoll, weil man den Strunk in der Regel an die Tiere verfütterte. Bei den modernen Handelssorten hat man diese Eigenart weggezüchtet.

Die Grünkohlszene mit seinem kulinarischen Mekka „Oldenburg in Oldenburg“ teilt schon den Norden und Nordwesten der Republik. Diese Unterschiede werden vehement als regionale Glaubensfragen ausgetragen. Darf man bei der Zubereitung des einst als Heilmittel geschätzten Kohls Schmalz und Hafergrütze verwenden? Und wie zum Henker kann man Grünkohl mit Schweinebacke, oder noch schlimmer – Grützwurst und Pinkel essen?

Im Land der Bajuwaren ist das Gemüse mit der botanischen Bezeichnung Brassica oleracea hingegen kaum bekannt. Aber die haben schließlich auch die Stoiber‘sche Ich-Weiß-Was-Wurst.

Eine relativ neue Grenze läuft seit ein paar Jahren durch Ungarn. Hartnäckig hält sich dort das Gerücht, dass eigentlich identische Produkte im Osten Europas eine andere Qualität aufweisen. So soll, laut der ungarischen Lebensmittelsicherheitsbehörde, die Nutella in Budapest «weniger cremig» schmecken als in anderen westlichen Hauptstädten. Das Phänomen wurde in Budapest deswegen kurzerhand „Nutella-Graben“ getauft. Mittlerweile legen umfangreiche Studien aus großzügigen EU-Mitteln den Schluss nahe, dass es zwar leichte länderspezifische Unterschiede gibt, diese jedoch weder die Qualität mindern – noch ausschließlich an den Grenzen Ungarns bestehen.

Nun, wer freie Berichterstattung nicht aushalten kann, muss sich nicht wundern, wenn ein Nutella-Graben zum Thema wird. Vielleicht kommt es in Budapest demnächst auch zum Neubau des Blaumilchkanals!? Denn man wisse, Ephraim Kishon war gebürtiger Ungar. Bei Interesse hier mehr dazu: Der_Blaumilchkanal .

Die ganze Welt weiß: In Asien und speziell in China gibt es jeden Tag die legendäre Handvoll Reis – nicht ganz verkehrt, aber das ist eben nicht alles. Denn in China werden auch gerne Nudeln gegessen und aufgepasst: Nudeln werden überwiegend aus Weizen hergestellt.

Kurz zum Einstimmen:  Die Weizennudeln Ramen stammen ursprünglich aus China, wo sie früher das Arme-Leute-Essen waren. Mittlerweile hat sich das allerdings geändert, allein in Japan gibt es über 20.000 Ramen-Bars. Die deutlich dickeren Udonnudeln werden auch aus Weizenmehl, Salz und Wasser zubereitet. Auch sie stammen ursprünglich aus China, werden aber mittlerweile überwiegend in Korea und Japan gegessen.

Doch wer nun die Nudel tatsächlich erfunden hat, war lange Zeit strittig, bis 2005 dann Gewissheit kam. In China wurde bei Ausgrabungen ein rund 4000 Jahre alter Topf mit Nudeln gefunden. Man glaubt es kaum: es handelte sich um eine Art Spaghetti, etwa einen halben Meter lang. Im Ergebnis war die Seidenstraße Jahrhunderte lang die kulinarische Grenze zur Nudel, und damit wären die Chinesen die eigentlichen „Spaghettifresser“. Aber egal, Marco Polo war bestimmt einer der ersten.

Die kulinarische Grenze zwischen der Weizenregion im Norden Chinas und dem reisaffinen Süden liegt ungefähr auf dem Breitengrad Pekings. Das ist der Grund, warum man in Peking sowohl chinesische Maultaschen, die Jiaozi findet, aber natürlich auch leckere Reisgerichte wie das populäre Kung Pao Chicken.

Wer nicht so weit reisen möchte, um eine kulinarische Grenze zu entdecken, dem sei die Ahle-Worscht-Grenze zwischen Nord- und Südhessen ans Herz oder besser – vor den Mund gelegt. Ahle Worscht ist eine mittel- und nordhessische Spezialität. Als Ahle Worscht werden dort verschiedene Sorten grob gekörnter, meist luftgetrockneter Rohwurst bezeichnet, hervorragend zur Vorratshaltung geeignet. So sind die Nordhessen, sie mögen es eben etwas rauer, gerne schnittfest. Die Initiative „Slow Food“ hat die Ahle Worscht in die „Arche des Geschmacks“ aufgenommen, um die traditionelle Herstellungsweise zu ehren und als Kulturgut zu sichern. Obwohl die Ahle Worscht also schon fast im Museum ist, hat sich das in Südhessen noch nicht so richtig rumgesprochen. Nur zu, richtig lecker – es gibt kulinarisch etwas zu entdecken.

Eigentlich wollte ich hier Schluss machen, denn es gibt noch dutzende, hunderte oder gar tausende von kulinarischen Grenzen. Wir müssen sie nur finden und überschreiten – absolut fantastisch, was es da zu entdecken gibt. Man muss das nicht immer lecker finden, aber man sollte es probiert haben, um zu wissen, was auf der anderen Seite des guten Geschmacks so gibt. Und immer mal wieder ist auch eine absolut leckere Entdeckung dabei …

Zum Schluss machen wir noch eine Zeitreise und lassen uns von nackten Zahlen betören. Das finale Thema – unser Dessert – sind Süßigkeiten, mit deutlichem Schwerpunkt auf Lakritz.

Die Geschichte der Süße in Deutschland ist unmittelbar mit Oberfranken, konkret mit dem Bamberger Land verbunden, es gilt als das älteste deutsche Anbaugebiet für Süßholz. Dabei ist der Saft der Süßholzwurzel sinnigerweise nicht wirklich süß, sondern es überfallen einen intensive Lakritz-Aromen. War Bamberg noch im Mittelalter das Zentrum des europäischen Süßholzanbaus, so kam er dort in den 1950er Jahren vollständig zum Erliegen, es entstand der unheimliche Lakritz-Äquator, wieder ziemlich genau entlang der Main-Linie. Merkt Ihr was?

Aber erst einmal ok, denn der Niedergang der Bamberger Süßholzraspler hielt Harry Riegel nicht davon ab, nun in Bonn sehr erfolgreich in Lakritzschnecken und Gummibärchen zu investieren. 1920 gegründet ist Haribo (Harry Riegel Bonn) mit 7000 Mitarbeitern inzwischen weltweit einer der erfolgreichsten Hersteller von Süßigkeiten. Legt man die 2020-Jahresproduktion der Haribo-Lakritzschnecken hintereinander, würde sie ca. 217500 km ausmachen, also viereinhalb Mal als Lakritz-Äquator um die Erde reichen.

Auch Katjes, der andere Lakritzhersteller Deutschlands, beobachtet das Phänomen Lakritz-Äquator schon länger. Katjes verweist auf einen nicht erklärbaren Bruch in Deutschland, der ungefähr auf der Höhe der Mainlinie verläuft. Nördlich davon essen die Menschen Lakritz gern, südlich tun sie sich damit etwas schwer. Verkaufszahlen belegen die Existenz dieses Äquators. Über 80 Prozent der Katjes-Lakritz verkaufen sich in Deutschland in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Bleiben 20 Prozent für die restlichen 14 Bundesländer.

Noch drastischer wird es weiter im Süden, in Österreich gibt es das sogenannte „Wiener Lakritzedikt“, das noch heute in Kraft sein soll. Demnach hat der letzte ungarisch-österreichische Kaiser Karl angeblich während seiner kurzen Amtszeit die Einfuhr und den Verzehr von Süßigkeiten mit mehr als 5 % Lakritzanteil verboten. Gut, das ist schon ein wenig spooky, aber nicht wirklich schlimm. Zeigt Mut und überwindet kulinarische Grenzen, es lohnt sich – manchmal? Nein, immer!

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Ein Gedanke zu „Die Grenzen des guten Geschmacks (Teil 2)“

  1. Lieber Uwe
    Wie schön, Dein Artikel. Den darf man nur lesen, wenn man sich satt fühlt.
    Hast du schon mal Grünkohl-Chips probiert? Sehr lecker!

    Ich freue mich, dass du auch eine Großmutter hattest, an die du dich gerne erinnerst. Wenn ich an kulinarische Erinnerungen meiner Großmutter denke, dann fallen mir „dicke Bohnen mit Speck und Kartoffeln “ ein, gerne mal mit einem Kotelett abgerundet! Dazu ein kleines Altbier. Ein Gedicht, dass ich nur in Ratingen und Umgebung bekomme. Hier in Hessen kennen sie keine dicken Bohnen. Und kein Altbier!
    Und bei der großartigen Buttercreme-Torte verhält es sich schon anders, denn die gibt es auch hier im Rheingau. Aber nie so lecker, wie sie bei Oma war!

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