Über Erfahrungen mit meinen Erfahrungen

Als lebendiger und neugieriger Organismus im letzten Quartal der 100-Jährigen und mitten im Strom der VUCA-Welt beschäftigt mich der Gedanke: Welche Rolle spielen denn noch Erfahrungen in deinem Leben – und als Berater und Coach gefragt: Können deine Erfahrungen für andere – im allgemeinen jüngere – überhaupt noch etwas Sinnhaftes, Nützliches bedeuten, insbesondere in einer Zeit, in der alle Sinne und Energien darauf gerichtet sind, den digitalen Tsunami zu bewältigen?

Aller Anfang ist schwer

Meine Erfahrungen!? Ehrlich gesagt, ein ziemliches Durcheinander, unübersichtlich, vieles in der Schwebe zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Sieht ja nach einer ganzen Menge aus, aber wie bringe ich sie in Form und drücke sie in Worten aus? Kennen Sie solche Erfahrungen? Wie leicht und selbstverständlich gehen wir im Alltag mit Erfahrungen um, aber ganz selten erlebe ich, dass wir über sie reflektieren und schreiben.

Wo fange ich an? Was ist mein Ausgangspunkt? Wofür entscheide ich mich? Und vor allem: Welche meiner Erfahrungen finden Sie als Leser dieses Beitrages interessant und nützlich? Darüber kann ich allerdings nur spekulieren. Dabei wird mir hier schon eine grundlegende Erfahrung sehr bewusst, nämlich die enge Beziehung zwischen meinen Erfahrungen und meinen Entscheidungen. Aber darüber vielleicht später mehr…

Erfahrungen, die mich am meisten geprägt haben

Falls Sie auf unserer Website mein kurzes Profil unter “pue” gelesen haben, kennen Sie meinen schulischen Werdegang. Ich habe ihn dort als “verkorkst” beschrieben. Davon möchte ich hier ausgehen und zeigen, dass sich im Schlechten auch das Gute finden lässt.  Meine Grundschuljahre in der damaligen DDR und drei Jahre Leben in unterschiedlichen Flüchtlingslagern mit dem einjährigen Besuch einer alle Schuljahrgänge umfassenden Einheitsklasse waren meine Eintrittskarte in die meinem Alter entsprechende Klasse eines Bremer Gymnasiums. Vor mir sah ich einen ungeheuren Berg an Nachholbedarf in allen Fächern und mir war richtig mulmig zumute. Mein Leben bestand fortan nur noch aus Schule, Nachhilfe und einsamem Pauken zu Hause.

Dennoch waren es drei bedeutende Erfahrungsquellen. In der Schule prägte mich mein Klassenlehrer, der uns in Deutsch und Geschichte unterrichtete, indem er es auf faszinierende Weise schaffte, Inhalte beider Fächer so miteinander zu verflechten, sodass mir die Bedeutung von Zusammenhängen und wechselseitigen Beziehungen bewusst wurde. Mein Nachhilfelehrer in Mathematik dagegen brachte mir mathematisches Denken und die Orientierung in Zahlenräumen bei. Und über die euklidische Geometrie führte er mich an das logische Denken heran und weckte meine Neugier für die  Philosophen der Antike. Schließlich war der Effekt meines zeit- und kräftezehrenden Paukens, dass ich nicht in allen Fächern in die Tiefe vorgedrungen bin, aber dafür ein Überblickswissen erwarb und mir mehr Zusammenhänge und Abhängigkeiten bewusst machen konnte. 

Und wie haben sie mich verändert?

Im Rückblick haben sie mich zu zwei wichtigen Erkenntnissen geführt und meine Entwicklung geprägt. Erstens, der Erkenntnisgewinn aus der Betrachtung von Beziehungen und Wechselwirkungen von Ereignissen, Personen, eigentlich allem, was existiert. Das hat mich zum systemischen Denken gebracht, dessen Theorierahmen ich mir autodidaktisch bis heute erarbeite und vertiefe. Und zweitens, dass ich erreichen kann was ich will durch selbstorganisiertes Lernen. In Verbindung mit dem fächerübergreifenden Denken fiel es mir leicht, mich in neue Aufgabenkontexte schnell einzuarbeiten. Beides erwies sich als solides Fundament für meine persönliche Entwicklung und berufliche Karriere.

In meinem Berufsleben arbeitete ich überwiegend mit Akademikern zusammen. Sie erlebte ich vor allem als Spezialisten eines Fachgebietes. Von ihnen habe ich viel profitiert. Allerdings vermisste ich bei ihnen häufig den “Blick über den Tellerrand”, wobei ich ihnen mit meiner generalistischen Denkweise ein nützlicher Ideengeber sein konnte. So erlebte ich Generalist oder Spezialist zu sein nicht als sich ausschließende Gegensätze, sondern als sich wechselseitig ergänzend und befruchtend.

Und das möchte ich gerne mit Ihnen teilen

Wir leben heute in einer unglaublich fragmentierten Umwelt als Ergebnis einer fortschreitenden Spezialisierung und enormen Wissenserweiterung. Um in dieser medialen Datenflut nicht unterzugehen, hilft mir, daraus das zu selektieren, was mir das Erkennen der großen Zusammenhänge erleichtert. Das gibt mir Orientierung für Entscheidungen und Handeln.

Wenn ich nun am Ende zu meiner Ausgangsfrage zurückkehre, kann ich mit Überzeugung sagen, dass reflektierte Erfahrungen – und nur reflektierte Erfahrungen – unabhängig vom Alter auch für die Mitgestaltung der Zukunft durchaus nützlich sind und weitergegeben werden sollten. Ich spüre geradezu Lust, das fortzuführen…

Erfahrung ist nicht das, was einem zustößt. Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem zustößt. (Aldous Huxley)

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