Sie war schon da, als ich mein Krankenhausbett bezog. Sie war sogar schon länger da, seit 5 Tagen. Und es ging ihr nicht gut. Schnell fand sie in mir ein willfähriges Opfer für ihre multiple Krankheitsgeschichte. Ich konnte ja noch gut zuhören.
„Ich habe die Galle rausbekommen. Nach der OP bekam ich eine Blasenentzündung und musste ein Antibiotikum nehmen. Das hat dann noch einen Pilz (nicht Pils) verursacht. Im Februar hatte ich Corona. Und am Herz habe ich es auch. Was haben Sie denn?“
„Ich habe die Nase voll. Also ich habe da was, was da nicht hingehört.“
„Ach so.“
Ich merkte, dass es ihr gar nicht gut ging. Sie tat mir leid. Aber ich dachte auch: „Na toll, das kann ja heiter werden. Und heiß ist es auch noch. Haben die hier keine Klimaanlage?“
Nach meiner OP konnte ich mich vor dem Zuhören drücken mit dem Hinweis auf Narkose-Nachwehen: „Ich muss jetzt noch etwas schlafen.“ Sie ließ mich in Ruhe.
Ich hörte, wie ein Arzt ins Zimmer trat, gefolgt von zwei Assistenzärzten. Seine beiden BegleiterInnen trugen Sneakers zur lockeren Jeans. Nur ihre Kittel waren weiß. Herr Professor trug schwarze Maß-Lederschuhe zu einer beigefarbenen Edeljeans. Auch mit weißem Kittel umhüllt. Herr Professor Ichweißleidernichtwieerheißt (Namensschilder von Ärzten dienen nicht dem ursprünglichen Zweck von Namensschildern, nämlich den Namen des Trägers für den Gegenüber lesbar zu präsentieren. Sie sind so klein beschriftet, dass man sich weit vorbeugen, also anstrengen muss, um ihn zu erkennen. Absicht? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!) fragte, wie es ihr geht. Sie zögerte nicht, ihre Geschichte zu erzählen: „Ich hatte ja die Galle raus. Dann kam die Blasenentzündung und ich bekam dann noch eine Pilzinfektion dazu. Und ich hatte Corona im Februar. Das Herz macht auch nicht mehr so mit. Es geht mir ganz schlecht, Herr Doktor. Ich glaube mir fehlt was, Vitamine oder so.“
Herr Professor wendete seinen Kopf zum Assistenzarzt: „Haben wir sowas (also Vitamine) im Haus?“ Antwort des Assi: „Jaja, morgen.“
Sie sollte dann ein schnell, nein, ein sehr schnell wirkendes Mittel gegen ihre Übelkeit bekommen. Leider ließ die bereits vor Tagen gelegte Kanüle nichts mehr durch. Also musste sie wieder warten auf einen anderen Arzt, der ihr eine neue Kanüle legen sollte. Als die Tür aufging und dieser Arzt herein kam, brachte er auch gleich seinen Lehrling mit. Der Lehrling lächelte glückselig, durfte er doch wieder am lebenden Objekt üben, und beugte sich fachmännisch über die andere Hand der Nachbarin. Er startete die Aktion mit den warmherzigen Worten: „Das wird jetzt etwas wehtun.“ Und er stach zu, mehrmals. Sie nutzte aber geschickt die Zeit, um auch diesen Arzt über ihre diversen Diagnosen aufzuklären: „Wissen Sie, ich habe ja die Galle raus bekommen. Au! Blase – Pilz – Corona – Au au au au – Herz – puh, geschafft.“ Und der Arzt hörte brav zu. Unermüdlich schmückte sie ihre Geschichte immer weiter aus. Meine innere Harlekine hatte Spaß.
Ich hatte mir nämlich in der Zwischenzeit überlegt, wie ich mit dieser Situation umgehen werde. Wenn ich weiter genervt bleibe, kann ich in den 2 Tagen, die ich hier verbringe, nicht wirklich ruhen.
Kann man an einem Ort, der die Problemsituation bezeichnet („Kranken“haus) und nicht den gewünschten Endzustand (Gesundung) überhaupt ruhen? Gesunden? In anderen Ländern wird dieser Ort Hospital genannt, das sich vom Wort hospitalis ableitet, was so viel bedeutet wie „zum Gast gehörig“ oder „gastfreundlich“. Aber ich schweife ab.
Mittlerweile tat sie, meine Nachbarin, mir leid. Das half mir, mit meiner Genervtheit über ihre ständigen Wiederholungen umzugehen. Irgendwann am Nachmittag war ich dann auch wieder soweit hergestellt, dass ich mich mit ihr unterhalten konnte. Ich fragte sie nach ihrem Leben, ihrer Familie, ihren Kindern und so weiter. Sie hatte sehr viel erlebt in ihren 73 Jahren, war für alle in der nahen und weiteren Familie die Stütze und kam gar nicht damit zurecht, dass sie dieses Jahr ihren Körper schwach und anfällig erlebte. Sie hatte Angst. Zum Beispiel, dass sie nun von anderen abhängig sein könnte. Ihre Angst drückte sie durch das stetige Wiederholen derselben Geschichte aus, was übrigens viele Menschen tun, um mit Angst umzugehen: reden, reden, reden.
Schon Siegmund Freud sprach vom sogenannten „Wiederholungszwang“, dem menschlichen Impuls, unangenehme oder auch schmerzhafte Gedanken, Handlungen, Träume, Szenen, Situationen zu wiederholen. Wir verschaffen uns mit diesem Verhalten Erleichterung unseres inneren (Angst-)Drucks. Sie ist aber nur von kurzer Dauer, wenn die Ursache für die Wiederholungen nicht gefunden und beseitigt werden kann, die Ängste also nicht aufgelöst werden können. Vielleicht kennen Sie selber solche Beispiele.
Von Robin Williams stammt der Satz: „Jeder, den Sie kennen, kämpft in einer Schlacht, von der Sie nichts wissen. Sei nett. Immer.“
Als Coach habe ich gelernt, Gefühle zu formulieren. Sie fühlte sich von mir gesehen und verstanden. Und ich hatte eine gute Gelegenheit, einen Menschen mit seiner Geschichte kennenzulernen. Mich interessieren Menschen und ich frage mich oft, was muss ein Mensch gerade erleben oder erlebt haben, dass er oder sie sich gerade so oder so verhält? Mitgefühl und Geduld können manchmal echte Retter für Situationen sein. Ich habe für mich gesorgt und mich gleichzeitig um sie gekümmert. Das hat ihr, aber auch mir gut getan.
Am Abend ging es ihr weiter besser, was mich wirklich freute. Und sie erzählte mir noch viel mehr über ihr Leben. Von ihren vielen Kämpfen im Leben, die sie schon als Kind hat erleben und aushalten müssen. Wir hatten ein richtig gutes Gespräch, eine menschliche Begegnung.
Und dann entschied sie sich, ihre Freundin anzurufen. Und Sie ahnen es: „Galle – Blase – Pilz – Corona – Herz – Kanüle.“ Ich flüchtete, indem ich den warmen Sommerabend mit einem guten Buch und netter Musik auf der Dachterrasse des Krankenhauses verbrachte. Schließlich musste ich ja noch einen Tag mit ihr in diesem Zimmer verbringen. Und für meine eigene Seelenhygiene wollte ich sie auch morgen noch sympathisch finden können.
Da ich diese Geschichte auf der Dachterrasse aufgeschrieben hatte, entschied ich mich, ein Forschungsprojekt zu starten, indem ich eine Strichliste anlegte: Sie hat ihre Geschichte am 2. Tag meines Aufenthalts insgesamt 12 Mal erzählt: diversen ÄrztInnen, PflegerInnen, ihren beiden Söhnen, der einen Schwiegertochter und ihrem Mann (ach, der kannte sie noch nicht???). Und natürlich mir.
Ich frage mich, ob ich auch einen dritten Tag mit ihr zusammen in Zimmer hätte liegen können. Hätten mich mein Interesse und mein Humor verlassen? Hätte ich sie weiterhin mit Respekt und Würde behandeln können? Keine Ahnung, denn es ist gut so, wie es war.
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