Organisationsentwicklung als Lebenskunst

„Die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst,
es ist das Handeln nach der Logik von gestern.”
(Peter Drucker)

Organisationen sind lebende Systeme

Dem muss nicht jeder zustimmen, für mich ist es aber eine wichtige Erkenntnis geworden. Um die Pointe meines Artikels nachvollziehen zu können, erläutere ich kurz meinen Ausgangspunkt: Eine erste wichtige Entscheidung für mich war, mein Bild von Organisationen zu revidieren. Meinen langjährigen Arbeitgeber hatte ich als eine mehr oder weniger gut geölte Maschinerie erlebt. Doch dieses Bild bröckelte schließlich, als diese Organisation sich restrukturieren musste, um sich in einem kompetitiven Umfeld zu behaupten. Für das, was ich da erlebt hatte, fand ich den erhellenden Denkrahmen in der Theorie sozialer Systeme, die Organisationen als lebendige Organismen bzw. lebende Systeme betrachten. Mit diesem Mindset denke und handle ich nun als systemischer Organisationsberater. So weit so gut. Doch als „Agilität” aus der Softwareentwicklung überschwappte in andere organisationale Teilbereiche und mir bewusst wurde, dass es sich dabei im Kern um einen elementaren Begriff des Lebendigen handelt, machte ich mir Gedanken über die Konsequenzen, wenn ich eine Organisation als lebendes System betrachte.

…und was sind die Konsequenzen?

Als Erstes betrachte ich Organisationsentwicklung (OE) nicht mehr als organisationstheoretisches Konzept. Vielmehr betrachte ich OE als eine Systemeigenschaft, als Lebensprozess der Organisation. Er ist das Resultat des kommunikativen Verhaltens und davon insbesondere der Entscheidungen seiner Akteure. Er vollzieht sich, ob es den Akteuren bewusst ist oder nicht, ob es ihnen passt oder nicht. Auch wenn man nichts tut, entwickelt sich eine Organisation. Das kann klug sein, aber auch nicht.

Zweitens: Organisationen sind sinnproduzierende Systeme für ihre relevante Umwelt. Sinnerfüllung ist nach außen eine entscheidende Voraussetzung für die Erhaltung der Lebensfähigkeit eines sich im Wettbewerb zu behauptenden Unternehmens durch Erfüllung von Kundenbedürfnissen und nach innen eine Voraussetzung zielorientierter, motivierter und effektiver Zusammenarbeit.

Drittens: Leben impliziert Veränderung, Wandel – gestaltend und anpassend. Das erfordert die Fähigkeit, zwischen Wissen und Nichtwissen unterscheiden zu können. Somit wird Lernen und Entlernen zu einer organisationalen Kernkompetenz.

Viertens: Das Bild einer lebenden Organisation öffnet den Blick auf eine Organisationsentwicklung, die man als Lebenszyklus verstehen, beobachten und beschreiben kann. Interventionen sollten diese Eigenschaften eines Lebenszyklus berücksichtigen. Darin unterscheiden sich Start-ups in ihren Eigenschaften gravierend von denen der Konzerne und auch in ihren Phasen des Wachsens und Alterns.

Fünftens: Somit betrachte ich jede Organisation, jedes Unternehmen als ein einmaliges und einzigartiges Individuum, welches nach seiner selbstreferentiellen Logik operiert. Hierbei geht es im Besonderen um die Art des Zusammenspiels der unterschiedlichen Akteure und deren gegenseitigen Erwartungen, die eine spezifische Kultur prägen.

Last not least spielt die Beziehung des Menschen zu einer Organisation eine bedenkenswerte Rolle: Das System funktioniert auf der Ebene von Strukturen und Rollen. Das System ist in seinem Lebensprozess darauf angewiesen, dass die Rollenträger – also die Mitarbeitenden – austauschbar sind. Andernfalls würde ja die Organisation mit dem Ausscheiden ihrer Mitarbeitenden aufhören zu existieren.

Wie lebt es sich in einem lebendigen System?

Diese Konsequenzen prägen meine Beziehung als Mitarbeitender zu einer Organisation. Ich bin mir bewusst, mich in einem Spannungsfeld zu bewegen zwischen dem Befolgen der Normen und Regeln der Organisation und dem Handeln nach meinen eigenen Werten und Überzeugungen. Wie finde ich da die passende Balance? Hier ist für mich Agilität ein Schlüsselwort, in dem Sinne, dass es um den Bezug zur Aktualität geht und um eine kritische Distanz zu dieser Aktualität – Reflexion und tägliches Lernen! Und über den Gegensatz von organisationalen Normen und meinen eigenen Werten kommt die Moral und die Ethik ins Spiel. Eine totale Unterwerfung unter die Normen der Organisation würde ich nicht mit meinen ethischen Grundsätzen vereinbaren können. Und mit gleicher Bestimmtheit kann ich nicht erwarten, dass ich immer entsprechend meiner persönlichen Werte dort handeln kann. Hier wird der Sinn, die Vision der Organisation zum Nordstern für die Orientierung und Rechtfertigung meines Handelns. Hieraus leite ich auch das Recht ab, über meine Rolle hinaus und aus Mitverantwortung für die Lebensfähigkeit der Organisation meine Beobachtungen zu äußern und Ideen zur Verbesserung und Weiterentwicklung einzubringen. Dadurch bekommt auch meine Arbeit einen Sinn. Dieses oszillierende Spiel zwischen organisationalen Anforderungen (Moralverhalten) und meiner Selbstbehauptung (ethischer Haltung) ist für mich die Lebenskunst. Die Kunst auch in Organisationen ein sinnvolles Leben zu leben.

Doch empfiehlt es sich genauestens zu betrachten, wie eine Organisation wirklich tickt, damit es einem nicht so geht wie dem Mitarbeiter und Betriebsrat Karsten vom Bruch, der mit Innovation und Aufrichtigkeit unternehmensintern aufklärend wirkte und dem schließlich unter zweifelbehafteten Argumenten fristlos gekündigt wurde. Einzelheiten dazu in der Juni-Ausgabe des deutschen Wirtschaftsmagazins „brand eins“ mit dem Schwerpunkt Unabhängigkeit.

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