Lerne die Stille zu lieben

Als ich zum Beginn einer Retrospektive eine einminütige (!) Fokus-Übung gemacht hatte, bemerkte danach ein Teilnehmer, dass er sich an diese „esoterischen“ Übungen nie gewöhnen könne. Ein kleiner Disput zwischen uns ging dann auch über Stille und wie schwer sich viele Menschen tun, Stille auszuhalten. Stille zu lieben hat nichts mit Esoterik zu tun.

Als Moderatorin bin ich eine Freundin der Stille geworden. Und mein Weg dahin war nicht einfach. Ich rede nämlich gerne und leidenschaftlich, bin manchmal impulsiv und zu schnell für andere. Durch viel Erfahrung habe ich gelernt, still zu sein und sehr aufmerksam zuzuhören, vor allem wenn ein anderer spricht. Wenn Du einige Kollegen von mir fragen würdest, ob ich Fortschritte gemacht habe, werden die Dir vermutlich sagen, sie übt noch. So sehe ich es auch, es ist eine fortwährende Übung, still zu werden und zu bleiben. Ich freue mich über jeden Schritt, den ich in Richtung Stille und weg von lauter Überflutung gehe.

Wenn ich im Workshop eine Frage stelle, lasse ich bewusst die Stille zu. Viele Menschen stellen eine Frage und halten nicht aus, dass der oder die Andere etwas Zeit braucht, um die Antwort zu finden. Ich weiß um die Magie der Stille, wenn alle sich ihre Antwort überlegen. Wenn ich selber Unruhe oder Ungeduld spüre, zähle ich innerlich von 10 bis 30 (das sind max. 20 Sekunden – und für viele schon viel zu lang) und verharre bewusst in einer ruhigen Körperposition. Ich beobachte die Gruppe und kann an der Körpersprache erkennen, ob die Zeit fürs Antworten gekommen ist.

Wenn Du mit Achtsamkeit und voller Wahrnehmung auf Menschen schaust, geht das nur in Stille. Dann fangen die Gehörten an zu reden und erzählen, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Es können Wunder geschehen, wir können magische Momente erleben, dem Besonderen begegnen, dem Nicht-für-möglich-gehaltenen. Wir können solche Augenblicke nicht erzwingen. Aber sie sind unglaublich wertvoll, wenn sich Menschen wirklich weiter entwickeln wollen, über das rein Methodische hinaus. Plötzlich liegen persönliche Themen vor uns, für die im hektischen Alltag kein Platz zu sein scheint. Es werden tiefe Einblicke in Haltung und Werte sichtbar, wenn ich mir im Gespräch Zeit lasse und Stille zulasse.

Wer mich gelehrt hat, still zu sein? Die Natur. Wenn Du Vögel oder andere Tiere im Wald beobachtest, musst Du still sein. Sonst sind die Beobachteten schnell weg. Überhaupt sind Begegnungen mit wilden Tieren meist flüchtig. Wenn Du in der Natur still bist, hörst Du Geräusche, die Dir vorher gar nicht aufgefallen sind. Und Du kannst Deine Ohren auf diese Naturgeräusche trainieren, so dass Du auch auf einer stark befahrenen Straße am Straßenrand stehend den Gesang des Rotkehlchens erlauschst. Du hörst selektiv, aber Du entscheidest, auf welche Geräusche Du fokussieren und reagieren willst. Und man weiß aus vielen Untersuchungen, dass das Hören auf Naturgeräusche entspannt. Das Hören von künstlichen Geräuschen dagegen stresst.

Übrigens: Gerade im Frühling ist es in der Natur alles andere als still. Der Vogel trällert, der Bach gurgelt, die Biene summt, die Blätter rauschen und irgendwo knackt etwas im Unterholz. Überall Geräusche. Und doch bezeichnen wir das Getöse in der Natur oft als Stille, weil sie uns gut tut und wir diese Empfindungen mit der schrillen Lärmbelästigung aus unseren Städten oder Straßen vergleichen. 

Mittlerweile liebe ich Stille und ziehe mich bewusst und regelmäßig zurück, um nach innen zu hören und herauszufinden, wie es mir gerade wirklich geht, wie ich mich wirklich fühle, ohne mir oberflächlich etwas vorzumachen. Dabei muss ich nicht still sitzen, sondern kann in der Natur sein oder mich im Workout bewegen. Ich werde auch nicht müde, Stille mit Projektgruppen zu üben. Und ich freue mich, wenn sich allmählich eine ganz neue, erfrischende Art der Team-Kommunikation einstellt: Mehr fragen statt sagen, mehr Mitgefühl statt Sachlichkeit, mehr Neugier und Nähe zum Einzelnen. So entstehen Verbundenheit und wirklich gelebtes Vertrauen untereinander.

Ich möchte auf diese Inseln der stillen Fokussierung nicht mehr verzichten, bringen sie mir doch Energie und Klarheit. Und schulen mich, meinem Gegenüber neugierig und mit Mitgefühl zu begegnen.

Und glaube mir: Obwohl ich ein Fan der Stille bin, freue ich mich auch immer wieder aufs „Chatting“ mit meinen Freund:innen… .

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Autor: hfi

Hallo, ich bin Heike Fillhardt, der hfi.harlekin aus dem Rheingau. Ich leite und begleite seit Anfang der 90er Jahre Veränderungsprozesse in internationalen Unternehmen im Rahmen von Reorganisationen, Fusionen und Leitbildumsetzungen. Dabei vertraue ich auf die Kraft der Gruppe und arbeite nach dem Grundsatz: es gibt immer eine Lösung, egal wie lange es dauert. Viele Führungskräfte empfinden sich als „lonesome hero“ – ein Bild, das sich – wem auch immer sei Dank – endlich auch in Deutschland zu verändern scheint. Und ich freue mich über jedes Projekt im Rahmen von Agilität. Neben Erfahrungen aus dem klassischen Projekt- und Changemanagement bringe ich auch breites systemisches Methodenwissen ein. Ich bin Scrum-Master und Leadership Agility Coach. Erkenntnisse aus meinen verschiedenen physio- und psychologischen Ausbildungen fließen ebenso in mein Wirken ein wie meine Erfahrung als Dozentin und Mutter. Ich wirkte 14 Jahre als Managementberaterin, Coach und Trainerin in verschiedenen Unternehmen. Seit 2007 bin ich selbständige Beraterin mit eigener Coachingpraxis. Seit 2012 bin ich Kung-Fu-Schülerin. Und im Laufe der Jahre flossen immer mehr Körperübungen in meine Workshops und Trainings ein. Denn nur wer sich bewegt, ist auch langfristig erfolgreich. Meine Kunden schätzen vor allem das Umsetzen der theoretischen Themen in Spiel und Körperübungen, meine systemische Sicht auf das ganze Feld, das schnelle Einstellen auf situative Bedürfnisse, meine klare und wertschätzende Sprache und die konsequente Zielverfolgung.

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