Lebenslanges Lernen

Zur Aktualität eines „alten Hutes“

„Einmal steht jeder vor der Frage
ob
er selbst fährt oder sich fahren lässt.“
                                  (Nicolas Born: Selbstverantwortung)

Wieder einmal dreht es sich in einem Beitrag von mir um das Thema Lernen. Diesmal: Lebenslanges Lernen. Ein „alter Hut“, der nicht aktueller sein könnte. Bereits 1792 plädierte Marquis de Condorcet in seinem Bildungskonzept für eine „education permanente“. Die UNESCO reanimierte diesen Gedanken des Lebenslangen Lernens 1962 und seit den 90er Jahren wird er von der OECD, der Europäischen Kommission, auch unserer Regierung und nationalen Institutionen zunehmend und nachdrücklich unserem Bewusstsein aufgedrängt. Und dazu passend: Vor kurzem proklamierte Ursula von der Leyen das kommende Jahr zum “Year of Skills”.

Wieso kommt es zu einer solchen Übersteigerung einer so elementaren menschlichen Eigenschaft? Ist es nicht inzwischen ein Allgemeinplatz, dass wir nicht nicht lernen können? Neugierig wie ich nun einmal bin, reizte es mich zu erfahren, wie einige meiner Zeitgenossen über das Lebenslange Lernen denken. Als Antwort erhielt ich überwiegend überraschte Reaktionen und eine große Bandbreite von Meinungen, z.B. „Ist doch ein alter Hut, mach’ ich doch seit Kindesbeinen, wenn ich nicht mehr lerne, bin ich tot.“ Aber auch: „Was meinen Sie denn mit dieser Nebelkerze? Hören Sie doch mit sowas auf, das ist ein Ding ohne Anfang und Ende, ist das was Zusätzliches? Haben wir nicht schon genug um die Ohren, lebenslang habe ich sowieso schon.“ Naja, mit „lebenslang” assoziieren manche unwillkürlich Rechtsurteile, verfehlen dabei aber den gemeinten Sinn.

Auffällig finde ich, dass dieser Eindruck des Normalen und Selbstverständlichen bei einer überwiegenden Anzahl meiner Zeitgenossen – deren Meinungen keineswegs repräsentativ ist, doch auch von mir geteilt werden – in Kontrast steht zu einer geradezu beschwörenden Aktualität und Dringlichkeit politischer und wirtschaftlicher Institutionen, die auch von NGO-Institutionen vertreten wird. Als prominentes Beispiel dafür steht die “European Association for the Education of Adults” (https://eaea.org) mit ihren Initiativen. Einerseits hat das Thema Lebenslanges Lernen etwas Selbstverständliches, Normales, andererseits wird uns diese Aktualität und Dringlichkeit vermittelt. Was steckt dahinter? Was treibt die Dringlichkeit, lebenslang zu lernen?

Auf diese Fragen finde ich in den Medien plausible Antworten. Ukraine-Krieg, Erderwärmung, Migration, gesellschaftliche Fragmentierungen, Digitalisierung, Demokratiegefährdung, dynamische Veränderungen in der Arbeitswelt lassen nachvollziehen, warum es von der Politik als aktuell und dringlich angesehen wird, dass wir lernen sollen und das ein Leben lang. Der Imperativ ist eindeutig: sei ein aktiver demokratischer Bürger, trage zu sozialem Zusammenhalt bei und Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, sorge für Nachhaltigkeit, deine Gesundheit und dein Wohlbefinden, akzeptiere Migration und demografischen Wandel und last not least mache dich kundig in Digitalisierung und sorge – gefälligst selbst – für deine Beschäftigungsfähigkeit, damit du nicht den Sozialsystemen zur Last fällst.

Unser Bildungssystem ist zwar einerseits eine attraktive Bildungslandschaft, die mit vielfältigen Einrichtungen verschiedene Bildungswege und Abschlüsse ermöglicht, doch andererseits von unterschiedlichen Experten und Institutionen massiver Kritik ausgesetzt ist, weil die Art und Weise, wie Kompetenzen vermittelt werden, nicht den Bedürfnissen und den Anforderungen der Gesellschaft gerecht wird. Also von da ist keine Motivation und Anleitung zu Lebenslangen Lernen zu erwarten.

Aber da ist ja noch die Erwachsenenbildung. Sie ist nach Schule, Hochschule und Berufsausbildung nicht die vierte Säule des Bildungssystems, sondern eher das fünfte Rad am Wagen (Schäfer, 2017). Der Appell richtet sich also an das Individuum und lautet: Professionalisiere dein unternehmerisches Selbst und sei wettbewerbsfähig. Vor dem Hintergrund der Qualität unseres Bildungssystems könnte ich das kritisieren. Doch ich interpretiere diesen Appell als eine Art Weckruf. Einen Weckruf mit der impliziten Aufforderung, sich seiner Ressourcen und Potenziale bewusst zu werden.

Allerdings muss man auf der gesendeten Frequenz auch empfangen können. Die Psychologie-Professorin Carol Dweck hat in ihrem Buch „Mindset“ (2017) zwei Denkhaltungen unterschieden: „growth mindset“ als die Bezeichnung für eine Haltung von Offenheit, Neugier, Weiterentwicklung und „fixed mindset“ als eine Bezeichnung für eine Haltung des – kurz gesagt – „ich habe und kann alles, was ich zum Leben brauche“. Da bedarf es keiner langen Überlegungen, wer mit diesem Appell etwas anfangen kann und wer nicht. Jeder ist seines Glückes Schmied – das wissen wir ja.

Lebenslanges Lernen sehe ich allerdings nicht reduziert auf ein Allheilmittel für den auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Strukturwandel. Mir fehlt hier etwas Entscheidendes. Zu den notwendigen Forderungen nach Lebenslangem Lernen für die Funktions- und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und Wirtschaft sowie zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts mache ich eine Leerstelle aus, ohne die mir das Ganze als eine Rechnung ohne den Wirt erscheint.

Um Menschen mit einem „growth mindset“ mache ich mir keine Gedanken. Sie sind auf einem guten Weg. Und für Menschen mit einem „fixed mindset“ ist wohl jeglicher Aufklärungsversuch vergebliche Liebesmüh. Ich hoffe, es ist nur eine Minderheit. Aber dazwischen vermute ich eine beträchtliche Menge von Menschen, die aufgeschlossen sind, offen für Veränderung aus Einsicht oder Notwendigkeit. In ihnen die Lust und Neugier zu wecken, sich eigener Ressourcen und Potenziale bewusst zu werden, die kindliche Lust am Lernen wieder zu entdecken, ein „growth mindset“ zu entwickeln, das braucht mehr als die schon vorhandenen Maßnahmen wie zum Beispiel Bildungsurlaub. Politik und Wirtschaft sollten daher im Arbeitsleben für mehr Raum und Zeit sorgen, um die individuelle Potenzialentfaltung zu unterstützen. So könnte sich ein Weg öffnen aus einer bloßen funktionsorientierten Rolle zu einer Rolle im Einklang mit persönlichen Interessen und Neigungen. Darüber hinaus würde dieser Weg aus dem beruflichen in den persönlichen Lebensbereich führen und zu einem sinnerfüllenden Leben beitragen.

Lebenslanges Lernen – oder wie Chip Conley es treffender formulierte: langes Leben lernen – baut auf der Haltung eines „growth mindset“ auf. Das bedeutet einerseits kontinuierlich neues Wissen zu erwerben und auszubauen, aber andererseits auch vorhandenes Wissen auf seine Nützlichkeit zu überprüfen und dies gegebenenfalls auch zu entlernen. Dafür muss sich jede Person bewusst selbst entscheiden, ob sie sich auf diesen Weg begeben will. Darin liegt meines Erachtens der wesentliche Knackpunkt des Lebenslangen Lernens, nämlich uns das Selbstverständliche bewusst machen, es unserer Reflexion zuzuführen und unsere Lernkompetenz auszubauen. Danach werden Lernen und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit wie ein Schwungrad wirken und den Prozess des Lebenslangen Lernens mit Energie versorgen.

Wenn Sie mir bis hier gefolgt sind, erwarten Sie bestimmt auch meine Meinung darüber, was konkret gelernt werden sollte. Diese Erwartung werde ich gerne erfüllen – in meinem nächsten Beitrag.

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