Leadership? – Womit kann ich dienen?

Ein junger Mann geht zielstrebig auf einen Laden zu. Das Geschäft ist kaum als solches zu erkennen, weil es keine Schaufenster hat. Lediglich ein Schild hängt über der Eingangstür. Darauf steht „Apotheke” und etwas kleiner darunter „für Führung & Leadership”. Der Mann tritt ein und das Öffnen der Tür löst ein schrilles Klingeln aus. Er hat kaum Zeit, sich im Verkaufsraum umzuschauen, da taucht schon ein älterer Herr mit weißen Haaren und zerzaustem Vollbart hinter der Theke auf.

Auf das freundliche Guten Tag antwortet der Alte griesgrämig mit einem kurzen Kopfnicken und fragt: „Womit kann ich dienen?” Der junge Mann sagt, noch im Verkaufsraum umherblickend: „Ich werde in Kürze in eine Führungsposition berufen. Darauf möchte ich mich vorbereiten. Doch als ich mich da genauer informierte, stieß ich auf eine Vielfalt von Leadership- und Führungsmodellen, die mich eher ratlos machten als hilfreich zu sein. Ich las von Experimenteller Führung, Agiler Führung, Lateraler Führung, Nachhaltiger Führung. Shared Leadership, Mindful Leadership, Tribal Leadership, Conversational Leadership, Distant Leadership, Host…” „Ja ja, ich weiß”, unterbricht ihn der Alte und winkt gelassen ab. „Nun mal langsam. Worauf genau wollen Sie sich denn vorbereiten? Was ist denn das überhaupt für eine Führungsrolle?”

Daraufhin erläutert der junge Mann ausführlich seine künftige Teamleiterrolle und erzählt von seinen bisherigen Tätigkeiten in seiner Organisation. Nach einer kurzen Pause brummelt der Alte etwas Unverständliches in seinen Bart und sagt: „Bevor wir gucken, was Sie brauchen, schauen wir, was Sie haben.” Auf den irritierten Blick des jungen Mannes reagiert der Alte freundlich lächelnd mit der Frage: „Wie gut können Sie sich denn selbst führen?” Auf diese Frage war der junge Mann nicht gefasst und es dauert ein paar Momente zu lange bis er Luft holt, um…. Da winkt der Alte ab und meint: „Man sollte sich selbst führen können, bevor man andere führt. Eigentlich was Selbstverständliches, aber vielen nicht bewusst. Im Kern geht es immer um eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Führenden und Geführten mit einem gemeinsamen Ziel, was die Organisation weiterbringt. Das ist wirksame Führung! Das ist der Kern. Und was wollen Sie selbst nun konkret in diese Beziehung einbringen?”

Der junge Mann schaut sich nun aufmerksam im Verkaufsraum um und gewahrt mehrere Regale mit Töpfen, Kanistern, Flaschen, Ständern mit Ampullen. Auf seinen ratlosen Blick reagiert der Alte mit einer ausschweifenden Armbewegung: „Alles was sie hier sehen sind die Standardmischungen der Führungs- und Leadership-Modelle, die Sie gerade aufgezählt haben und noch ein paar mehr. Alles vorgefertigte Produkte.”

Der Alte beugt sich etwas in seine Richtung vor und fährt in einem vertrauensvollen Ton fort: „Ich muss Ihnen offen gestehen, ich halte von diesen Standardmischungen überhaupt nichts. Die passen ja gar nicht auf jeden. Ich habe da ein paar Töpfe mit meinen eigenen Wirkstoffen. Mit denen kann ich meinen Kunden entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen dienen. Aber die Standardmischungen muss ich auch anbieten. Das ist blöderweise das Hauptgeschäft. Die werden vor allen Dingen von den Seminaranbietern gefordert, die hypen neue Führungsstile und die Personaler steigen dann auch noch darauf ein. So läuft das Geschäft hier. Nix für Leute wie Sie, schätze ich.” „Und was haben Sie noch dahinten in dem Regal?” fragt der junge Mann neugierig und weist auf das alte Holzregal an der Seitenwand. „Dahinten? Das ist alles Management. Will kaum noch jemand, geht ganz schlecht.”

„Aber mit Ihren Töpfen haben Sie mich richtig neugierig gemacht. Was ist denn in denen drin?”, fragt der junge Mann. Da bückt sich der Alte und holt unter der Theke ein paar unterschiedlich große Töpfe, Becher und Flaschen hervor und stellt sie sorgfältig nebeneinander auf die Theke. Deutlich freundlicher und aufgeschlossener dreht er sie so, dass der junge Mann ihre Schilder lesen kann. „So, da haben wir hier lupenreines Vertrauen, das ist das Wertvollste”, dabei macht er eine bedeutungsvolle Handbewegung. „Hier haben wir Respekt und da ist Selbstorganisation drin. In der ist Neugier, hier Risikobereitschaft, hier Mut und da fehlt doch noch… na…” und er bückt sich noch einmal und stellt noch eine Flasche auf die Theke. „So, hier ist noch Selbstreflexion.” „Ja, aber…”, reagiert der junge Mann zögernd. Da fällt ihm der Alte ins Wort: “Vergessen Sie den ganzen Leadership-Bullshit-Bingo. Nehmen Sie von dem hier, was Sie brauchen, seien Sie achtsam und Sie sind jeder Führungsherausforderung gewachsen.” Der Alte wirkt plötzlich um Jahre jünger.

„Aha…”, bedächtig nickte der junge Mann mit dem Kopf und seine Augen wandern von den Gefäßen auf der Theke zu dem Alten und zurück. „Sie meinen wirklich, dass ich damit in allen Situationen auskomme? Soll Führung so einfach sein?“ fragt zweifelnd der junge Mann. Daraufhin lächelt der Alte verschmitzt und erwidert: „Nichts ist einfach! Probieren Sie es doch mal aus. Fangen Sie Ihren Führungsalltag mit Menschlichkeit an. Wenn Sie nicht klarkommen, kommen Sie wieder vorbei. Methoden und Techniken des Leadership-Bullshit kann ich Ihnen immer noch verkaufen.“ „Ok, dann lasse ich mich mal darauf ein, was Sie sagen“, lenkt der junge Mann ein und wirkt dabei dennoch nicht ganz überzeugt.

„Also dann”, dabei reibt der Alte sich die Hände, „nun sagen Sie mal, wie viel Sie von jedem haben wollen.” Dabei dreht er sich um und holt eine kleine leere Karaffe aus dem Regal neben der Tür. Nun folgt ein intensiver Austausch zwischen den beiden, Deckel klapperten, Flaschen klirrten, es wird sogar gelacht und am Ende hält der junge Mann diese kleine Karaffe gefüllt mit einer bunten Mixtur in der Hand. Vorsichtig stellt er sie vor sich auf die Theke und schaut den Alten an. „Was bin ich Ihnen denn jetzt schuldig?” „Ich mache bei Ihnen mal eine Ausnahme”, erwiderte der Alte, „von welchen Eigenschaften haben Sie denn so viel, dass Sie mir davon etwas hierlassen können?” Ohne langes Nachdenken sagt der junge Mann: „Ich denke, ich habe zu viel Empathie und auch eine Menge Lernbegierde. Von beiden kann ich Ihnen was abgeben.” „Damit bin ich sehr einverstanden”, erwidert der Alte, „das wird immer wieder nachgefragt.”

Es folgt ein fast freundschaftlicher Abschied. Der Alte steht in der Tür seines Ladens und schaut dem jungen Mann hinterher, der sich mit zielstrebigen Schritten bald seinen Blicken entzieht.

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2 Gedanken zu „Leadership? – Womit kann ich dienen?“

  1. Der Titel machte mich direkt neugierig und ich bin begeistert. Was für eine großartige Geschichte!
    Erst vorgestern habe ich ähnliches in einer Kundenabsprache erlebt. Es fielen Sätze wie: „Das bisherige Training für den Führungsnachwuchs muss modernisiert werden! Das neue Betriebskonzept erfordert das.“ Ich gab zu Bedenken, dass z.B. Selbstführung immer wichtig bleiben wird, egal wie hipp das neue Konzept auch werden soll. Jetzt habe ich noch weitere gute Argumente an der Hand. um mich für Themen der persönlichen Entwicklung und Reife einzusetzen. Vielen Dank dafür!

  2. Ohja wie war. Vertrauen, Respekt, Selbstorganisation, Neugier, Risikobereitschaft, Mut, Lernbegierde und Empathie und auf jeden Fall Selbstreflexion. Das sehe ich genauso so wie du, Peter. Und damit kann man in jeder Organisation eine gute Führungskraft werden. Egal ob hierarchisch, agil oder möglicherweise sogar soziokratisch ohne „den Leader“.
    Danke auch für die unterhaltsame Rahmengeschichte mit den Standardtinkturen 😉

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