Godot in der Warteschlange (Teil 1)

Die Wahrnehmung von Wartezeiten

Schon die unterschiedlichen Weisheiten zum Thema «Warten» zeigen die Ambivalenz der Wahrnehmung. Während die einen den positiven Aspekt betonen (Leo Tolstoi: ‘Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann’), kehren die anderen eher den ungeduldigen Aspekt hervor (Damaris Wieser: ‘Auf etwas zu warten, nimmt uns nur die Zeit, die wir später nicht mehr haben, wenn wir sie brauchen.’).

Warten ist das „Erleben von Zeit“ und daher verwundert die Ambivalenz auch nicht. Wer Kinder hat, weiss um das „Wann sind wir endlich da?“ bereits nach etwa drei Minuten Fahrzeit, was gerne im Wechsel mit «Ich muss mal!» verwendet wird, was aber nichts zur Sache tut. Der kritische Leser mag anführen, dass es in diesem Beispiel um Langeweile, also erzwungenes Nichtstun gepaart mit Unterforderung, geht, was aber auch eine Form von Warten ist, nur in verschärfter Form. Im gleichen Fahrzeug freuen sich aber die Eltern über die begonnenen Ferien (Vorfreude).

Der Begriff ‘warten’ kommt aus dem mittelhochdeutschen und stand für ‘ausschauen, auf etwas achthaben’, was heute noch im Substantiv der ‘Warte’ (z.B. Sternwarte) enthalten ist. Zeit wird also kostbare Ressource angesehen, auf die achtzugeben ist, die nicht verschwendet werden darf.

Ungenutzte Zeit ist tote Zeit. Wartezeit gilt als Kostenfaktor. „Time is money» verkündete Benjamin Franklin schon 1748 und diese Betrachtung von Warten findet weltweit Niederschlag in Konzepten wie ‘just-in-time’ und ‘Lean Management’ (Toyota). Der Preis einer Ware sinkt oder der Gewinn steigt, wenn der Verschwendung von Ressourcen, zu denen auch Zeit gehört, Einhalt geboten wird. Folglich schätzen wir im Umkehrschluss den Wert einer Sache hoch ein, worauf wir bereit sind zu warten.

Warten und soziale Gerechtigkeit

Die unliebsame Seite des Wartens wird als Machtlosigkeit empfunden. Neurobiologen wie Henning Beck führen das auf den Mangel an Beeinflussungsmöglichkeiten zurück, dass von Menschen als bedrohlich erlebt wird. Eindrücklich im italienischen Film ‘Der grosse Stau’ von 1979 anzusehen.

Warten ist ein gesellschaftliches Phänomen und ist in diesem Kontext Ausdruck von Macht. Der Politik- und Kommunikationswissenschaftler Harold Laswell formulierte schon 1950, Politik sei «who gets what when how“, also letztendlich geht es um Möglichkeiten und dem Zeitpunkt des Zugriffs darauf.

Wartezeiten waren und sind ein Machtmittel und Ausdruck sozialer Gerechtigkeit. Die der Aristokratie huldigenden Engländer haben dem schon vor einigen Jahrhunderten Ausdruck gegeben, indem Sie Kellner als ‘waiter’ bezeichnet haben. Jene mit hohem Ansehen wurden zuerst bedient. Unsere braven schottischen Freunde dagegen gelten als die Erfinder des sogenannten Windhundprinzips, besser bekannt unter dem Begriff ‘first come, first served’, das an die Stelle der sozialen Ungleichheit den Zeitpunkt der Anfrage setzt. Auch andere gute Dinge, wie Golf und Whisky, kommen aus Schottland und nicht aus England. Aber wenigstens haben die es übernommen, wenn auch mit Nebeneffekten, die Pierre Daninos, französischer Verbindungsoffizier zur britischen Armee im zweiten Weltkrieg so beschrieb: ‘Engländer sind die einzigen Leute, die sogar Schlange stehen, um in eine Schlange zu kommen.’

Trotz solcher ermutigenden Veränderungen existieren auch heute noch soziale Ungleichheiten, die sich wartenderweise niederschlagen. Wer in ungemütlichen Amtsfluren schon einmal warten musste, weiss um die Ohnmacht. Und wer das nicht kennt, weiss aber um die eigene Gefühlswelt in der Schlange vor dem Sicherheitscheck an Flughäfen. Und wer das auch nicht kennt, gehört zu den Unterdrückern!  Heutzutage unterliegen diese Ungleichheiten aber schnell dem Verdacht des Machtmissbrauchs und sind folglich erklärungs- und legimitationsbedürftig. 

Der Umgang mit Wartezeiten

Warteräume sind geradezu dafür geschaffen aufzuzeigen, wie Aspekte des Wartens verstärkt oder abgeschwächt werden können. Manche lassen bestimmte Arten von Warten zu, andere nicht. Über grässliche Flure mit unbequemen oder zu wenig Sitzgelegenheiten ist schon gesprochen worden. In den Berliner U-Bahn-Stationen wurden die Sitzbänke nachträglich mit lehnenartigen Metallrohren versehen, damit Liegen unmöglich wird. Auch Transatlantikflüge in der Businessclass und den zugehörigen Lounges macht Unterschiede deutlich. Aber auch im Kleinen lassen sich die Wartezeit betreffende Massnahmen beobachten. Wer kennt nicht die neckischen kleinen Fortschrittsbalken, die uns die Wartezeit versüssen. Die Zeitschriften im Arztzimmer und das Programm im Theater helfen uns, Wartezeiten zu überbrücken und das negative Gefühl der nutzlosen Herumsitzerei in den Griff zu bekommen. Vorbands bei Konzerten nehme ich hier ausdrücklich aus, weil die überwiegend echt übel sind.

Und manchmal möchten wir warten. Warten wird Teil des Erlebnisses. Alfred Hitchcock hat das Warten zur Kunstform erhoben. Was wären seine Filme ohne?

Und dann ist da noch die Religion, wo das Versprechen auf paradiesische Zustände in der Zukunft entsprechendes Warten sogar bedingt. In diesem Kontext bin ich mir aber nicht sicher, inwieweit das immer noch zur Manifestation von sozialer Ungleichheit beiträgt.

Warten und Ungewissheit

Menschen können sich über die Zukunft austauschen. Vorstellungen über die Zukunft und Ziele des Wartens sind kommunizierbar. Die aktuelle Forschung spricht das Tieren nur sehr bedingt zu und auch nur bezogen auf kurze Zeitspannen zwischen Stimuli und Eintreten des Erwarteten (Pawlowscher Hund). Dagegen sind Menschen fähig, das Warten von den Stimuli abzukoppeln. Forscher nennen dies ‘Entgrenzung’ und machen den menschlichen Hintergrund des Wartens an Handlungsfreiheit, Selbststimulierung, zeitlicher Reichweite sowie der bereits angesprochenen Kommunizierbarkeit fest.

Der Hinweis an junge Menschen, sich doch rechtzeitig um die Versorgung im Alter zu kümmern, aber auch das Versprechen auf das Paradies sind Beispiele für die zeitliche Distanz von Stimuli und Erwartetem.

Im sogenannten Marshmallowtest (um 1970) wurden Kinder vor die Wahl gestellt, entweder das Teil sofort zu verschlingen oder später ein zweites zu bekommen, sofern sie jetzt verzichten würden. Damit sollte getestet werden, unter welchen Bedingungen kurzfristig auf etwas Attraktives für die Erreichung langfristiger Ziele verzichtet wird. Manche Kinder verzichteten, andere nicht. Interessanterweise wurden genau diese Kinder vor einigen Jahren erneut aufgesucht und geschaut, was aus ihnen geworden ist. Tatsächlich konnte ein statistisch positiver Effekt zwischen Verzicht und sozialem und beruflichem Erfolg festgestellt werden.

Die Ablösung des Wartens vom Stimulus bringt höhere Ungewissheit im Hinblick auf die Eintrittswahrscheinlichkeit mit sich, was durch die zeitliche Ausdehnung noch gesteigert wird. Gerade in Bezug auf die Altersversorgung ist das recht putzig, denn die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Alter zu erreichen, hängt davon ab, wie alt man bereits ist. Mit einem Alter von 62 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, 63 zu werden viel höher als im Alter von 16 Jahren.

So weit so gut. Aber jetzt sind wir an einem Punkt im Artikel angelangt, wo der Übergang zu einem meiner Lieblingsthemen stattfinden kann: dem Umgang mit Ungewissheit (für Schlagwortliebhaber: VUCA-Welt), aber diesmal im Kontext des Wartens. Das aber erst im zweiten Teil, wo dann auch das Warten auf Godot ein Ende hat. Oder, um es mit Woody Allen zu sagen: ‘Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.’

Bildquellen

Autor: rge

Hallo, ich bin Rüdiger Geist, der rge.harlekin vom Zürichsee. Als Politikwissenschaftler verlor ich sehr schnell den Glauben an Rationalität und den homo oeconomicus. Also suchte ich mir was Handfesteres und Logischeres: die Informatik. Feste Regeln, unmittelbares Feedback vom Compiler und nicht viel mit Menschen zu tun haben. Ihr erahnt es schon, es kam ganz anders. Schnell wurde ich zum Projektleiter ernannt, hörte sich auch toll an, wusste aber nicht so genau was das eigentlich ist. So nach etwa drei Jahrzehnten im Umfeld von Projekten meine ich nun zu wissen worum es da geht und so trage ich nun meine Erkenntnisse seit 2005 mittels eigenem Unternehmen in die Welt hinaus, ja sogar in die EU. Es gibt so viele schöne Zitate, die die unterschiedlichsten Facetten des Projektmanagements beschreiben und ich nutze sie gerne. Aber das beste stammt natürlich von mir selbst: Der Zweck des Projektmanagement ist «no surprises».

3 Gedanken zu „Godot in der Warteschlange (Teil 1)“

  1. Mit „warten“ wurde sogar der Trabbi zum Kult. Ein für DDR-Verhältnisse noch fairer Preis wird mit 20 Jahren „warten“ auch zum dekadenten Luxus. Zeit ist anscheinend wirklich Geld.

  2. Deine Gedanken zu „warten“ sind sehr kurzweilig und anregend. In den Sinn kommt mir dabei noch die andere Bedeutung von „warten“ als „pflegen“. So kann man dann auch über das Warten des Wartens nachdenken.

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