Die vergessene Blockchain des Mittelalters

Das Kerbholz

Für alle, die noch keine Bitcoins haben und nicht selber auf dem Laptop programmieren: Die Blockchain ist eine digitale Dokumentation für den Besitz und die Übertragung von  Vermögenswerten, neben Geldwerten können das aber auch Rechte an Bildern, Grundbesitz oder auch Kühe sein. Und genau dafür – nur als analoge Dokumentation – hatten unsere Altvorderen das Kerbholz.

Über Jahrtausende das zentrale Werkzeug der „Buchhaltung“, ist der Begriff Kerbholz heute nur noch über die Redewendung „etwas auf dem Kerbholz haben“ bekannt. Sie bedeutet im ursprünglichen Sinne „Schulden haben“, doch heute eher „sich schuldig gemacht haben“.

Immerhin ist der Begriff noch nicht ganz verschwunden, aber stark gefährdet und kommt damit auf meine rote Liste gefährdeter Wörter. Denn das Prinzip Kerbholz, früher auf der ganzen Welt verbreitet, hat im Deutschen nur noch in dieser Redewendung überlebt. Dabei haben Kerbhölzer eine interessante Geschichte und wurden in unterschiedlichen Kulturen verwendet.

In seiner einfachsten Ausführung ist das Kerbholz ein einfacher Holzstock, in den Kerben eingeschnitten wurden. Jede Kerbe auf dem Kerbholz repräsentiert dabei einen bestimmten Wert oder Arbeitsfortschritt. Im Mittelalter war es in Europa weit verbreitet und diente bei Amtsträgern als verlässliches Instrument zur Aufzeichnung von Mengen, Schulden und Zahlungen. In diesem weitgehend schreibunkundigen und münzarmen Europa ist der Gebrauch des Kerbstocks ab dem 10. Jahrhundert üblich. Vor mittelalterlichen Gerichten wurde der Kerbstock – wie ein Schuldschein – als Beweismittel akzeptiert.

Marco Polo erwähnt in seinem Reisebericht den Gebrauch des Kerbstockes im Reich des Kublai Kahn. In Südamerika knoteten Inkas ihre Buchhaltung in Khipus (Schnüre). Auch unter Seeleuten und Handwerkern war die Verwendung von Kerbhölzern üblich, da sie oft über längere Zeiträume ohne Geld, also Münzen, auskommen mussten. Papiergeld gab es noch nicht. Der älteste Nachweis einer Art Kerbstock stammt allerdings aus der heutigen Demokratischen Republik Kongo und ist unglaubliche 20.000 Jahre alt. Statt Holz wurde hier zwar ein Knochen verwendet, aber auch der Ishango-Knochen war funktional ein „Kerbholz“.

Doch auch wenn 20.000 Jahre wirklich lange her ist, bei unseren direkten südlichen Nachbarn wurde der Kerbstock noch im 20. Jahrhundert verwendet. Besonders in der Sennerei und Landwirtschaft wurde damit noch ein Nachweis von Sachleistungen, Weiderechten oder die Herdengröße dokumentiert.

Das Kerbholz war jedoch nicht ohne Mängel. Es war anfällig für Betrug und Fälschungen, da es relativ einfach war, simple Kerben hinzuzufügen oder zu entfernen. Einige Anhaltspunkte deuten darauf hin, dass eine Weiterentwicklung, der gespaltene Kerbstock, aus dem Donauraum nach Westeuropa kam, sozusagen die Blockchain des Mittelalters. Dabei wurde das Kerbholz nach der Dokumentation der gewünschten Information in zwei Hälften geschnitten und den beiden Vertragspartnern übergeben. Beide Vertragsparteien hatten nun jeweils eine Hälfte des Kerbstocks, erst mit dem Zusammenlegen beider Kerbstockhälften war der Kontrakt komplett und konnte bis dahin nicht einseitig geändert werden.

In England war es noch bis ins 19. Jahrhundert üblich, Steuerquittungen in Form von Kerbhölzern auszustellen. Im Rahmen einer Steuerreform 1834 wurde dieses aufwändige Verfahren durch eine, auch schon betagte, Innovation des Herrn Gutenberg aus dem Jahre 1450 endlich abgelöst, durch Steuerquittungen auf Papier. Für die Archivierung der alten Kerbhölzer brauchte die Finanzbehörde ziemlich viel Platz und beschloss, sich von einem Teil alter Steuerquittungen/Kerbhölzer zu trennen. Das war fatal, denn am 16. Oktober 1834 wurden diese zwar im Hof des Parlamentsgebäudes Palace of Westminster verbrannt. Das Gebäude wurde dabei aber selbst von den Flammen erfasst und brannte lichterloh ab.

William Turner ließ sich davon inspirieren, malte eine ganze Serie von Bildern zum Brand des Houses of Lords and Commons und avancierte bereits zu Lebzeiten zum erfolgreichsten Motiv- und Marinemaler Englands.

Ja Ja – die Welt ist kein Ponyhof – aber ein Kasperletheater vom Allerfeinsten.

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