Die Qual der Wahl (Teil 1)

Wenn ich als Kind überhaupt mal eine Wahl hatte, dann höchstens zwischen „Take it or leave it“. Eine einfache Kindheit, man musste nicht lange überlegen, der Sachverhalt war schnell klar!

In dieser Zeit bekamen wir BBC Radio und die Probleme mit der Wahl wurden größer. Auf dem gleichen Gerät konnte man aktuelle Ereignisse und Nachrichten hören, aber auch “Women’s Hour” – die Sendung für die Hausfrau, die Original-Soap „The Archers“ und die damals typischen Komödien. Auf dem 3. Programm liefen Kultursendungen (schwere Unterhaltung!), und zum Ausgleich gab es das “Leichte Programm” mit Musik und Unterhaltung für die ältere Generation, was vor allem die Väter und Großväter meiner Generation schätzten. Trotz deutlich erweiterter Wahlmöglichkeiten war die Entscheidung immer noch einfach – die Älteren hatten immer Recht.

Viele Jahre später besuchten wir Ben&Jerry’s Eiscremefabrik in Vermont, wo wir von der Auswahl völlig erschlagen wurden. Nach einer unterhaltsamen Tour, bei der Fragen mit „Muh“ statt mit „Ja“ beantwortet wurden, standen auch wir in der Schlange für ein Ben&Jerry-Eis. Schon von weitem konnten wir die zahlreichen Sorten sehen, noch waren die überwiegend neu für uns. Sorten mit so exotischen Namen wie Pucker Upper, Brownie Batter Core, Chilllin´ the Roast, Americone Dream u.ä.

Wie soll man da wissen, welche man wohl wählen sollte/könnte/wollte? Wir bereiteten uns auf das Unvermeidliche vor.

Als wir dann aber endlich an der Reihe waren, wurden wir völlig unerwartet mit einer Flut völlig anderer Fragen überhäuft: “Becher, Tüte oder Waffel? Klein, mittel oder groß? Mit oder ohne Schokolade?“ Erst dann kam die Frage nach der Sorte – von insgesamt 18 !!! verschiedenen – wir überlegten… Als hinter uns die Ersten unruhig wurden und unsere Sorten in den richtigen Behältern waren (oder was wir dafür hielten), wollten wir uns gerade entspannen, als die nächste Fragensalve uns niederstreckte: „Möchten Sie Streusel darüber?” und wenn dann  „Welche Farbe?“, „Nüsse?“ etc. Was für ein Erlebnis, was für tolles Eis – was für ein Streß.

Es wurde auch nicht besser, als wir später den riesigen Food Court unter der Washington Railroad Station besichtigten. Als wir hinten ankamen, waren wir wie betäubt – erschlagen von den vielen Angeboten und unfähig eine Entscheidung zu treffen. Der Einfachheit halber vergaßen wir unseren Hunger und gingen lieber entspannt zum Hotel zurück.

Ganz anders die einheimischen Amerikaner, sie vermittelten in all diesen Situationen den Eindruck absoluter Souveränität. Die meisten wussten anscheinend bereits Minuten schon vorher,  welche Sorte Eis sie wollten, und über den verlockendsten Fastfood-Stand war die Entscheidung auch bereits im Vorfeld gefallen. Zumindest dachten wir das.

Und so ergeht es doch den meisten. Wir haben Wahlmöglichkeiten ohne Ende! Ob es sich um Essen, Fernseh- oder Radiokanäle handelt, Getränke, Automodelle oder Zahnpasta. Selbst unter den neuen Facebook-Freunden kann man/muss man wählen. Welchen Post sollte man lesen und will man wirklich allen zum Geburtstag gratulieren?

Aber ist dieses Multiple Choice, diese “ Extremform der Demokratie“ wirklich gut für uns? Verwechseln wir nicht Quantität und Qualität?

(Mit dieser Frage lasse ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, jetzt bis nächsten Freitag allein. Dann folgt der 2. Teil der „Qual der Wahl“.)

Englischer Originaltext: BCO
Deutsche Übersetzung: UTO

Bildquellen

Autor: bco

Hallo, ich bin Bernie Cornwell, der bco.harlekin. Wie schon meine Signatur-Kappe unten suggeriert, bin ich Wirtschaftsflüchtling aus England und seit der Brexitabstimmung Wahlexilant. Über Umwege via Sprachunterricht und Sozialarbeit bin ich bei der IT gelandet. Ich war in die Technik total verknallt und nach meinem ersten Realisierungsprojekt bei einer Berufsgenossenschaft habe ich mich als Business Analyst und Projektleiter sukzessiv immer weiter von der Technik entfernt… Inzwischen verdiene ich mein Brot als Berater, Trainer und Coach im Projektgeschäft in jeder beliebigen Branche. Mein Hintergrund und meine Reiselust führen mich überwiegend zu Einsätzen in der ganzen Welt oder/auch bei multikulturellen Unternehmen im deutschen Sprachraum. Mit den Jahren hat sich meine berufliche Einstellung wesentlich geändert. Früher Missionar in der Sache des methodischen Vorgehens, sehe ich mich nun eher als Lebenshelfer im Projektumfeld. Das Arbeiten in einem Projektteam kann lehrreich, stimulierend und begeisternd sein; es soll weder Mission Impossible noch Himmelskommando sein. Projekte können der beste Ansatz sein, Innovation, Wirtschaftlichkeit und reizvolles Arbeiten zu fördern. Warum lieben Projektleiter den „surrealistischen“ Dilbert? Weil er tägliche Projektsituationen darstellt, die wir wiedererkennen. Und weil sie leider recht realistisch sind.

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