Die Lesung

Dieser Beitrag ist von unserer Gastautorin Susanne Bröer. Susanne lebt in Berlin, ist Betriebswirtin, näht seit 30 Jahren leidenschaftlich gerne Quilts und schreibt Kurzgeschichten, sogenannte Fünfzeiler. 

Donnerstag, 20 Uhr! Es sitzen nicht viele Leute im Auditorium, ein Dutzend vielleicht – überwiegend welche der älteren Generation, Literaturliebhaber sozusagen. Einige sind bewaffnet mit Schreibmaterial, um Notizen zu machen, andere warten neugierig auf das literarische Spektakel, das nun folgen soll. Eine Frau betritt die Bühne des Geschehens, ganz in schwarz gekleidet; dazu ein fast weißblonder, kleiner Junge, ihr Sohn vermutlich. Ein großes Buch in einem roten Stoffeinband liegt aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch.

Sie nimmt Platz, nicht ohne sich vorher ihres schwarzen Blazers zu entledigen. Nun sitzt sie da in einem Oberteil aus fließendem, schwarzen Stoff, dessen dünne Träger dicht mit Strasssteinen besetzt sind; auf ihrem Schoß ihr kleiner, verträumt schauender Junge. Sie beginnt zu sprechen. Die eine Hand gestikuliert zur Verstärkung ihrer Worte, die andere hält den  blonden Jungen fest. Das Kind ist ruhig, trotzdem fällt es mir schwer, mich auf die inhaltsschweren Worte der Lesung zu konzentrieren. Ich probiere, meinen Blick abzuwenden und lasse meine Augen zu Boden gleiten. Auf dem Boden befinden sich die Füße der schwarz gekleideten Frau, eingezwängt in überaus spitze, schwarze Pumps mit hohen, vollständig mit Glitzersteinen besetzten Absätzen.

Was hat sie gerade vorgelesen?

Ich bin abgelenkt, kann mich nicht konzentrieren… Sie redet begeistert weiter. Der Junge auf ihrem Schoß wird langsam unruhig. Ich bekomme immer weniger mit von ihren Worten, aber offenbar will sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, denn sie hat den Jungen fest im Griff. Ihre Hände sind schmucklos. Kein Ring, kein Armband, keine Uhr ziert diese Hände. Sie halten das Kind, sie blättern die Seiten des Buches als gehörten sie nicht an diesen Ort.

Was hat sie gesagt?

Der blonde Junge wird langsam unzufrieden. Was ist denn das?? Sie legt ihn in eine waagerechte Position, streift ihr glitzerndes Top hoch und stopft dem Kind eine große Brust in den Mund. Der Kleine ist still, sie liest weiter mit halb entblößtem Oberkörper und ich überlege, warum ein Junge, der schon längst laufen kann, während einer Lesung gestillt werden muss. Ich bin irritiert.

Worüber hat sie eben gesprochen?

Sie unterbricht kurz ihre Ausführungen und bittet den Vater des kleinen, blonden Jungen, ihr das Kind abzunehmen. Was? Der Vater ist hier? Hätte er sich nicht gleich zu Beginn der Lesung um den Kleinen kümmern können? Ein älterer Mann steht auf und geht nach vorn. Man sieht dem Vater an, dass nur er der Vater sein kann. Die Ähnlichkeit ist unbestritten. Vater und Sohn verlassen die Stätte der geistigen Unterhaltung, denn der Junge schreit nun aus Leibeskräften. Gott sei Dank, denke ich. Doch die Momente der Ruhe und Konzentration sind nur von kurzer Dauer und werden jäh unterbrochen, da Vater und Sohn sich wieder einfinden und der kleine, blonde Junge bestrebt ist, den Rest des Abends bei seiner Mutter zuzubringen.

Warum hat sie eben gelacht?

Der Junge, der schon sehr gut laufen kann, rennt nun ein wenig herum und testet die Standfestigkeit der Stehlampe, die neben dem Lesungstisch steht. Doch die schwarz gekleidete Frau hat alles unter Kontrolle. Immer noch einzelne Textpassagen lesend, ist sie stets Herr der Lage. Mit einer Hand im Buch blättern, mit der anderen den Sturz der Lampe verhindern. Meine Gedanken sind überall, bloß nicht beim Inhalt der Lesung; schließlich bin ich in ständiger Anspannung, dass die Lampe doch noch jeden Moment umfallen könnte.

Was hat sie gerade erklärt?

Das Kind drängt wieder auf ihren Schoß; es wird zunehmend müde und unruhig. Der Vater kommt herbei. Mit zurückgenommenen, schüchternen Gesten will er den Jungen der Mutter entziehen. Der kleine, blonde Junge möchte nicht weg von der Mutter und so erhält er nur einige Streicheleinheiten vom Vater, der sich sogleich wieder in seine Reihe zurückzieht. Das Kind wird quengelig. Die schwarz gekleidete Frau fährt fort mit ihren Ausführungen. Erneut wird das Kind wieder in die waagerechte Schoßposition gebettet. Es gibt offenbar Probleme, die Brust von unten zu befreien. Ohne jeden Skrupel holt sie die Brust aus dem Ausschnitt und packt sie auf ihr Strass besetztes Top, nicht ohne mit der Hand noch einen Pump-Quetsch-Griff anzuwenden, damit die Milch offenbar besser fließt.  Ich fühle mich belästigt. Wie weit will sie noch gehen?

Worüber hat sie gerade referiert?

Ich kann nur schwer folgen. Diese ständigen Ablenkungen lassen es nicht zu, dass ich so richtig in das gelesene Thema eintauchen kann. Der kleine, blonde Junge ist jetzt fertig mit Trinken, aber er zappelt und quengelt. Ich glaube, er will jetzt einfach in sein Bett. Ein Zuhörer sagt in barschem Ton, sie solle den Jungen endlich zur Ruhe bringen, schließlich habe er bezahlt für die Lesung. Der Vater springt sofort auf und nimmt zaghaft der schwarz gekleideten Frau das Kind ab. Sofort schreit der kleine, blonde Junge wieder.  Einige Zuhörer verlassen empört die Lesung. Nachdem endlich wieder Stille eingekehrt ist, kann ich nur mit Mühe den Schlusserörterungen folgen, denn mein Kopf ist voller Fragezeichen. Schade, das große Buch mit dem schönen roten Stoffeinband sah so vielversprechend aus.

Bildquellen

Autor: rge

Hallo, ich bin Rüdiger Geist, der rge.harlekin vom Zürichsee. Als Politikwissenschaftler verlor ich sehr schnell den Glauben an Rationalität und den homo oeconomicus. Also suchte ich mir was Handfesteres und Logischeres: die Informatik. Feste Regeln, unmittelbares Feedback vom Compiler und nicht viel mit Menschen zu tun haben. Ihr erahnt es schon, es kam ganz anders. Schnell wurde ich zum Projektleiter ernannt, hörte sich auch toll an, wusste aber nicht so genau was das eigentlich ist. So nach etwa drei Jahrzehnten im Umfeld von Projekten meine ich nun zu wissen worum es da geht und so trage ich nun meine Erkenntnisse seit 2005 mittels eigenem Unternehmen in die Welt hinaus, ja sogar in die EU. Es gibt so viele schöne Zitate, die die unterschiedlichsten Facetten des Projektmanagements beschreiben und ich nutze sie gerne. Aber das beste stammt natürlich von mir selbst: Der Zweck des Projektmanagement ist «no surprises».

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert