
Der folgende Text ist ein Gastbeitrag von Gabriele Guthmann. Sie betreibt eine Praxis für Psychologische Beratung, spirituelle Energiearbeit und Bewusstseinscoaching und lebt in Rheinland-Pfalz.
Unsere Gesellschaft ist einer zunehmenden Polarisierung unterworfen, gemäß einer aktuellen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Blick auf die Entwicklung der deutschen Gesellschaft zeigt seit der Jahrtausendwende ein immer stärker werdendes Ungleichgewicht im internationalen Vergleich mit Ländern wie Schweden oder Dänemark.
Ein Ungleichgewicht der Einkommensstrukturen, politische und ökonomische Unsicherheiten führen zum Erleben unterschiedlicher Wahrheiten unserer gesellschaftlichen Werte. Eine Gesellschaft, die sich über Jahrzehnte auf Sicherheit und Stabilität ausruhen durfte, gerät zunehmend in die Orientierungslosigkeit. Daraus resultieren Verlustangst, Aggression, Überforderung und das Gefühl, von anderen getrennt zu sein.
Ist nicht allein die Idee einer getrennten Gesellschaft ein Paradox als solches? Getrenntsein ist die Abwesenheit von Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit von Menschen in einer Gemeinschaft.
Eine Gemeinschaft von Menschen scheint auf den ersten Blick untrennbar. Sind wir doch ununterbrochen bemüht, im globalen und persönlichen Kontext Trennungen und damit die Isolation von anderen zu vermeiden. Die Angst vor Trennung bis hin zur Tabuisierung von Tod führt zu einer wahren Flut immer neuer Regeln und Normen. Kontrollinstanzen und -instrumente versuchen, Trennung zu verhindern.
Was wachsen will, braucht Raum. Was in Freiheit wachsen und sich entfalten will, braucht Vertrauen. Angst vor Trennung begrenzt wahres Wachstum in einer Gesellschaft, die durch ihre Komplexität immer wieder an ihre Grenzen stößt, die sie sich selbst gesetzt hat. Wir verkommen zunehmend zu einem Kollektiv, das nur noch „im main-streamed“.
Aber warum entsteht kein Gemeinschaftsgefühl, kein Wachstum und keine volle Potentialentfaltung aller Beteiligten?
Erlauben wir uns einen Perspektivwechsel, weg von der gesellschaftlichen Sicht werden wir auf uns selbst zurückgeworfen. Aber was genau ist dieses Selbst, das sich so variantenreich in der deutschen Sprache zeigt? C.G. Jung definiert das Selbst als die „unbekannte Ganzheit des Menschen“, die in uns nach Verwirklichung strebt. Es ist der Prozess der sogenannten Individuation, die aus psychologischer Sicht ihre Entsprechung in der seelischen Vervollkommnung findet. In der Erkenntnis unseres Selbst liegt eine zutiefst soziale Komponente, mittels derer wir erst in der Lage sind, uns und unsere Mitmenschen jenseits aller gesellschaftlichen Filter als wahre Individuen zu erkennen.
Die Verbindung zu unserem Selbst wird aber bereits in der Kindheit durch die Nicht-Erfüllung frühkindlicher Bedürfnisse auf das Ich reduziert, dem bewussten aber eben nur begrenzten Teil unserer Ganzheit. Hier entsteht Trennung, durch einen inneren Mangelzustand. Die Angst, den Mangel nicht kompensieren zu können begleitet uns oft ein Leben lang. Dieser Irrweg verleitet uns zu reinen Äußerlichkeiten, ohne jemals Erfüllung zu finden.
Wir sind doch stets bemüht, unser Verhalten an die äußeren Gegebenheiten anzupassen, uns immer wieder überkorrekt zu verhalten, um der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen und damit den Erwartungen anderer. Durch den äußeren Druck entfernen wir uns jedoch von unserem Selbst.
Obwohl die Hinwendung zum Selbst die Erfüllung unserer Bedürfnisse und Wünsche impliziert, unterwerfen wir uns dennoch einem Leben jenseits von Authentizität und Verbundenheit.

Ein unecht gelebtes Leben hat seinen Preis und führt langfristig zu einem seelischen Overload (Bannasch, Junginger 2015). Aufgestaute Emotionen führen, sofern wir sie gegen uns selbst richten, zu psychischen Erkrankungen wie Burnout, Depressionen oder anderen Ausdrucksformen seelischer und physischer Überlastung. Seit langem sind dies etablierte Zeiterscheinungen in unserer Gesellschaft. Entladen sich aber Angst, Wut, Hass und Aggression im gesellschaftlichen System, hat das fatale Folgen sowohl auf politischer als auch auf sozialer Ebene und spiegelt sich in Phänomenen wie Fremdenhass, parteipolitischen Entgleisungen u.a., die sich jeder Kontrolle entziehen.
Eine Gesellschaft auf Basis sich unbewusster und damit als getrennt erlebender Ich-Anteile wird nur bedingt in der Lage sein, zu einer aufrichtigen Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Nur die Ehrlichkeit zu sich selbst, in Verbindung mit Authentizität und Offenheit schafft ein gesellschaftliches Klima für ein harmonisches Miteinander, in dem eine positive Weiterentwicklung stattfinden kann.
In dem wir uns selbst erkennen und unseren individuellen Selbstausdruck leben, geben wir auch dem Anderen Raum für die eigene kreative Entwicklung. Nur der bewusste Prozess der Selbstfindung erlaubt es uns, mit uns und anderen in Frieden zu leben und in einen aktiven und konstruktiven Austausch zu gehen. Wenn Menschen wieder zurück zur Verbundenheit mit sich selbst und anderen finden, kann die Polarisierung unserer gesellschaftlichen Strukturen überwunden werden.
Es braucht eine globale Zukunftsvision und Mut, um überholte Verhaltensmuster und Denkstrukturen hinter sich zu lassen. Jeder Einzelne von uns trägt die Verantwortung für die Entwicklung seines Selbst und damit die individuelle Gestaltung seines Lebens. Ein Weg hin zu einer neuen Definition von Wir in einer offenen und gerechten Wertegemeinschaft.
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- Schattenpaar: Gabriele Guthmann
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