… bis zum Verlust der Muttersprache

Um das von Anfang an klarzustellen: In diesem Beitrag geht es nicht um exzessiven Alkoholgebrauch! Diesmal ist tatsächlich genau das drin, was draufsteht.

Vor etlichen Jahren kam eine ehemalige Kollegin und immer noch gute Freundin von mir, die als Französin in Deutschland lebt, morgens völlig schockiert ins Büro. Sie erzählte mir, dass sie am selben Morgen mit ihrer Mutter in Frankreich telefoniert hatte und im Verlauf des Gesprächs erzählen wollte, dass sich sich einen neuen Bademantel gekauft hat. Aber das französische Wort für “Bademantel” fiel ihr nicht ein! Sie war sehr erschrocken darüber und fürchtete, nun ihre Muttersprache zu vergessen.

Da ich dieses Phänomen inzwischen auch immer öfter bei mir bemerke, habe ich dazu recherchiert und stiess auf die Website “languageattrition.org” der deutschen Linguistik-Professorin Monika S. Schmid, die an der Universität von Essex forscht. Hier habe ich gelernt, dass dieses Phänomen einen Namen hat: Sprachattrition.

Frau Schmid nennt als “Symptome” für Sprachattrition:
– Probleme, sich an manche Wörter der Muttersprache zu erinnern
– Gebrauch seltsamer Redewendungen, weil man Wortkombinationen und grammatikalische Konstruktionen der Zweitsprache auf die Muttersprache überträgt (z.B. “ein Foto nehmen” statt “ein Foto machen”)
– Sprechen der Muttersprache mit einem ausländischen Akzent (*)

Jetzt weiss ich sicher: Meine Freundin und ich sind nicht die einzigen! Und das ist gut zu wissen, z.B. wenn mir  im Telefongespräch mit  meiner Schwester das Wort “Wettervorhersage” nicht mehr einfällt, was zu diffusen Umschreibungen führt (“Wo am Ende der Nachrichten immer einer erzählt, ob’s morgen regnet…”) Aber das ist nicht mein grösstes Problem – das liegt eher bei Punkt 2.

Ich bin Deutsche und wohne nun seit  mehr als 18 Jahren in den Niederlanden. Da ich hier für amerikanische und indische Unternehmen gearbeitet habe, ist meine “Arbeitssprache” zu 95% Englisch. Mein niederländischer Ehemann und ich haben während des “Covid-Jahres” sehr viel Zeit zu zweit verbracht, und dadurch hat sich in unsere Kommunikation ein Drei-Sprachen-Mix eingeschlichen, der hin und wieder völlig ausser Kontrolle gerät. ( “Meine Güte, what the hell ben ik aan het doen?”)

Manchmal nehme ich die Worte gar nicht mehr als zu unterschiedlichen Sprachen gehörend wahr, und das birgt natürlich das Risiko, dass “Nicht-Eingeweihte” nicht mehr folgen können. (Böse Zungen werden vielleicht behaupten, dass es früher in meiner ausschliesslich deutschen Lebensphase auch schon schwierig war, meinen Erzählungen zu folgen, aber das lassen wir jetzt mal beiseite.)

Professor Schmid findet aufmunternde Worte:
“Wenn Sie Ihre Muttersprache von Kind auf an gelernt und auch weiter gesprochen haben, bis Sie mindestens zwölf Jahre alt waren, dann ist diese Sprache normalerweise recht stabil und wird sich nicht wirklich ‘zersetzen’. Wenn Sie dann Ihr Ursprungsland verlassen und eine neue Sprache lernen und sprechen, ist es natürlich dennoch möglich, dass Sie einige der Symptome von Sprachattrition an sich wahrnehmen (…) aber es ist unwahrscheinlich, dass Sie Ihre Muttersprache wirklich vollständig vergessen werden.

Die Probleme, die in dieser Situation auftreten, sind das Ergebnis eines Wettstreits, der in unserem Gehirn ständig zwischen allen Sprachen stattfindet, die um unsere Aufmerksamkeit und um Aktivierung kämpfen. Alle Sprachen, die wir beherrschen, sind zu jedem Zeitpunkt in unserem Gehirn aktiv, und je lauter eine bestimmte Sprache schreit und ausgewählt werden will, desto leichter passiert es, dass wir aus Versehen auf sie zugreifen, und nicht auf die Sprache, die wir eigentlich gerade sprechen wollen. (…) Es kann also einfach sein, dass unsere Muttersprache über die Jahre hinweg ein wenig leiser und ruhiger geworden ist, aber aller Wahrscheinlichkeit nach ist sie immer noch da, und geht es ihr prächtig. Wir müssen sie dann nur ein wenig mit Aufmerksamkeit füttern.”

Es gibt also noch Hoffnung! Und es ist eine interessante Vorstellung, dass mehrere Sprachen in mir schreien… Ich habe die Idee, dass die drei Sprachen in meinem Kopf eine Art Kanon singen, aus dem die eigenartigsten Sätze entstehen:

Ich werd jetzt mal Heike bellen (meint: “anrufen”).
Dieses Formular schnapp ich nicht (meint: “snap ik niet = versteh ich nicht”).
Ich setz dann schon mal Tee.
Das ist doch zu geck für Worte!
Und schon sind wir in trouble!

Dieses sprachliche Wirrwarr versuche ich nun, mir abzugewöhnen. Ich werde mal meinen aus Grossbritannien nach Deutschland übergesiedelten Harlekin-Kollegen BCO fragen, ob er diese Probleme auch kennt und Tips für mich hat…

(*) Der Akzent-Aspekt lässt sich durch das geschriebene Wort nicht wirklich vermitteln. Da wäre wohl ein Podcast geeigneter…

Bildquellen

Autor: bbr

Hallo, ich bin Beate Brinkman, der bbr.harlekin. Ich bin Redakteurin und Autorin für den Harlekin.Blog e.V. und im “Hauptberuf” in einem international agierenden IT-Unternehmen als Support Coordinator tätig. Bisher habe ich in deutschen, niederländischen, amerikanischen und indischen Unternehmen gearbeitet und viele Erfahrungen mit multikultureller Zusammenarbeit machen dürfen. Seit vielen Jahren lebe ich als Deutsche in den Niederlanden und habe festgestellt, dass schon allein die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Niederländern ganze Bücher füllen können. Aus beruflichen und privaten Gründen gilt dem multikulturellen (Miss-)Verständis mein besonderes Interesse. Ob es um Essen, Sprache, dienstliche Conference Calls oder die Gestaltung von Begräbnissen geht – wenn die Kulturen mehrer Länder aufeinander stoßen, wird es spannend. Und das führt zu manchmal unerfreulichen, oft sehr komischen, aber immer lehrreichen Situationen.

2 Gedanken zu „… bis zum Verlust der Muttersprache“

  1. Liebe Beate, was für ein wunderbarer Artikel.
    Da meine Tochter Ricarda gerade in Deutschland ist, bekomme ich live und in Farbe mit, was Sprachattrition anrichtet. Sie fragte mich ehrlich letztens: Machst Du ein Trinken? Darauf konnte ich nur antworten: Häh?
    Wir haben dann einen wunderbaren Gin genossen. Aber erst war ich ganz schön verdutzt.
    Mir gefallen Deine sprachlichen „ensaladas mixtas“.
    Lieben Gruß, Heike

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