Big Brother lebt noch – und wohnt jetzt in Kanada!?

… oder wie ich gelernt habe, mich weniger zu sorgen und seltsam
anmutende Datensammlungen zu lieben

In den letzten Jahren habe ich mich  intensiv mit Ahnenforschung und meiner genetischen Herkunft beschäftigt. Meine englische Familie war immer davon überzeugt, dass wir mit einem gewissen Jack Cornwell verwandt sind – einem mit nur 16 Jahren im 1. Weltkrieg kämpfenden Seemann, der in der Schlacht von Jütland gefallen ist. Meine Mutter allerdings war Deutsche, auf diese Seite von mir war ich natürlich auch neugierig. Die meisten Verwandten konnte ich allerdings nicht mehr fragen, sie sind inzwischen verstorben. Also blieben zur Ahnenforschung nur noch ein paar Erinnerungen  an Familienanekdoten und eine Handvoll alte Fotos.

In dieser misslichen Lage war das Internet meine Rettung! Genauer, die gewaltige, genealogische Datensammlung der Mormonen in Salt Lake City, deren Mission anscheinend darin besteht, durch genealogische Forschung zur “Erlösung ihrer Vorfahren” beizutragen. Von den Mormonen bevollmächtigte Organisationen betreiben mehrere Online-Sites, die dabei helfen können, „die Geschichte der eigenen Familie” zu erforschen.

Begonnen hat dies anscheinend kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als Dutzende mormonischer Forscher eine große Anzahl Kirchenbücher und öffentliche Aufzeichnungen in Europa fotografiert und transkribiert haben, lange bevor sich jemand Gedanken über die Datensicherheit und die DSGVO gemacht hat. Es gibt daher bereits seit Jahrzehnten mehrere Millionen genealogische Datensätze  in ihren Datenbanken.

Ich war begeistert. Ich fand Hunderte von Aufzeichnungen und machte anschließend auch noch einen DNA-Test, der eine statistische ethnische Zuordnung ermöglicht. 6 Wochen nachdem meine Speichelprobe über den Atlantik transportiert worden war, bekam ich meine persönliche  ethnische Zuordnung. Keine großen Überraschungen: Englisch, Deutsch, ein wenig Schottisch/Irisch und 10% Norwegisch ! Gab es in meiner Vergangenheit marodierende Wikinger?

75% englische Gene waren allerdings etwas verwirrend für jemanden mit einer deutschen Mutter. Denn damit sollten eigentlich auch 50% meiner DNA deutsch sein. Aber entweder haben die Analysten etwas falsch gedeutet oder mit „Englisch“ wird eigentlich angelsächsisch gemeint. Und Sachsen gab/gibt es ja immer noch auch in Deutschland.

Wie auch immer, mit der Analyse gab man mir eine Liste mit „Matches“.  Nein, nicht wie bei  Paarship und auch keine Dating-Tipps, sondern Matches aus ihrer Datenbank mit inzwischen 10 Millionen Vergleichsdaten, mit “ähnlicher” DNA. Dies ergab 101 Cousins der 4. bis 6. Klasse, (das sind Menschen mit dem gleichen Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater). Nein, wir sind noch nicht bei Adam und Eva.

Ich überprüfte einige dieser Stammbäume, um herauszufinden, wo (wenn überhaupt) ich einen gemeinsamen Verwandten identifizieren konnte. Darunter war auch ein Match, der mir sofort auffiel, nennen wir ihn John.

Mögliche Zuordnung: Nahe Familie – 1. Cousin, Confidence: Extrem hoch.
Gemeinsame DNA: 2.026 Centimorgans in 67 Segmenten.

(Centimorgans messen die Länge der DNA-Segmente, die gemeinsam sind. Je mehr davon, desto grösser ist die Übereinstimmung.)

Aha, möglicherweise die Deutschen!? Ich schickte dieser Person, mit einem sehr exotisch klingenden Namen, eine Email und fragte, ob wir möglicherweise über diese deutsche Seite miteinander verwandt sein könnten.  Er antwortete: “Wohl eher nicht, meine Mutter war Belgierin. Mein Vater war Niederländer, aber da könnte auch mehr dran sein. Ich lebe jetzt in Kanada.“

In ein paar weiteren Mails haben wir die Geschichte und die DNA-Analyse hinterfragt.

Und langsam dämmerte es uns, welche Möglichkeiten es gab. John wurde im Januar 1946 geboren.  Ich erinnerte mich an einige alte Fotos – von meinem Vater in Belgien im Mai 1945 – aber John konnte niemanden auf ihnen erkennen. Zeit für mehr Geschichtsforschung.

Die Alliierten hatten Belgien bis Februar 1945 befreit, mussten sich aber erst wieder sammeln, bevor sie auch in die Niederlande einmarschieren konnten. Mein Vater war zu der Zeit bei den RAF-Bodentruppen und machte dort die Logistik. Beim Rundstedt´s Push in den Ardennen – einem deutschen Gegenangriff – wurde er von Amerikanern gerettet. John erinnerte sich, dass seine Halbschwester ihm gesagt hatte, dass es Zweifel gebe, ob ihr Vater tatsächlich sein Vater sei, und dass möglicherweise seine Mutter eine Affäre mit einem amerikanischen Soldaten gehabt hätte?

Wir überprüften weiter, was die Analyse-Ergebnisse wohl bedeuten könnten. John konnte nicht mein Großvater, meine Tante oder mein Onkel sein – oder umgekehrt. Wir haben uns dann von Angesicht zu Angesicht gesehen und kamen zu dem Schluss, dass wir wahrscheinlich Halbbrüder sind! Er ist nun froh, einen weiteren Teil seiner Familie gefunden zu haben, und ich mag die Idee, nun Verwandte in Kanada zu haben. Die Recherche und das Ergebnis waren spannend aber auch unfreiwillig komisch. Mir treibt es immer noch ein Grinsen ins Gesicht, wenn ich daran denke, dass MEIN Vater, der so prüde und geradlinig war, während des Krieges ein Kind gezeugt hat (und anscheinend nicht einmal davon wusste).  Schon während der Recherchen haben meine Frau und ich über den Gedanken gejohlt, doch die Zeiten haben sich geändert. Gott sei Dank …

Die Generation meines Vaters wurde noch zu extremer Diskretion erzogen, man durfte Emotionen auf keinen Fall zeigen und musste sich nach den etablierten Normen richten. Illegitimität war tabu, Sex durfte nicht einmal erwähnt werden. Doch der Krieg brachte die Menschen in extreme Situationen und hielt sich nicht immer an diese Konventionen. Mit den rebellischen 60er und 70er Jahren hat sich die Einstellung zum Sozialverhalten radikal verändert, Internet und Social Media haben die Privatsphäre neu definiert. Big Data zeigt Zusammenhänge und macht vielen Geheimnissen ein Ende. Ob man davon profitieren will oder kann, das muss jeder selbst entscheiden.

Ancestry warnt in seinen AGB´s: „Sie können bei der Nutzung unserer Dienste unerwartete Fakten über sich selbst oder Ihre Familie entdecken …„.

Das kannst du laut sagen.

Englischer Originaltext: BCO
Deutsche Übersetzung: UTO

Bildquellen

Autor: bco

Hallo, ich bin Bernie Cornwell, der bco.harlekin. Wie schon meine Signatur-Kappe unten suggeriert, bin ich Wirtschaftsflüchtling aus England und seit der Brexitabstimmung Wahlexilant. Über Umwege via Sprachunterricht und Sozialarbeit bin ich bei der IT gelandet. Ich war in die Technik total verknallt und nach meinem ersten Realisierungsprojekt bei einer Berufsgenossenschaft habe ich mich als Business Analyst und Projektleiter sukzessiv immer weiter von der Technik entfernt… Inzwischen verdiene ich mein Brot als Berater, Trainer und Coach im Projektgeschäft in jeder beliebigen Branche. Mein Hintergrund und meine Reiselust führen mich überwiegend zu Einsätzen in der ganzen Welt oder/auch bei multikulturellen Unternehmen im deutschen Sprachraum. Mit den Jahren hat sich meine berufliche Einstellung wesentlich geändert. Früher Missionar in der Sache des methodischen Vorgehens, sehe ich mich nun eher als Lebenshelfer im Projektumfeld. Das Arbeiten in einem Projektteam kann lehrreich, stimulierend und begeisternd sein; es soll weder Mission Impossible noch Himmelskommando sein. Projekte können der beste Ansatz sein, Innovation, Wirtschaftlichkeit und reizvolles Arbeiten zu fördern. Warum lieben Projektleiter den „surrealistischen“ Dilbert? Weil er tägliche Projektsituationen darstellt, die wir wiedererkennen. Und weil sie leider recht realistisch sind.

Ein Gedanke zu „Big Brother lebt noch – und wohnt jetzt in Kanada!?“

  1. Lieber Bernie,
    wie wunderbar zu lesen. Meine Oma brauchte gar keinen Krieg dafür… – und auch in unserer ach so katholischen Familie wurden konsequent einige Themen ausgespart. Das gehörte wohl zu dieser Generation. Ich freue mich, dass Du einen neuen Bruder hast.

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